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Der König war tot und ich schmeckte seine Asche auf der Zunge.
Sie tanzte in den Sturmböen, die durch die offenen Fenster meiner Kutsche peitschten. Ein Unwetter zog heran und färbte den Himmel und die darunterliegenden Häuser dunkel und grau. Stadtbewohner fluteten die Straßen, die ungläubigen Gesichter dem Feuer entgegengewandt, das hoch oben vor den Toren des Goldenen Schlosses brannte.
Dabei hatte ein jeder von ihnen gewusst, dass er sterben würde.
Unser König.
Ich jedoch hatte mein Leben seinem Tod gewidmet.
Könige dienten zweiundzwanzig Jahre — nicht länger. So war es Tradition am Hof der Sonne.
Genauso wie es Tradition war, dass der Thronfolger zu seiner Krönung einen neuen Hof um sich formte. Und zu diesem zählte ein in den Adel erhobener Hoftänzer. Oder eine Hoftänzerin.
Das würde ich sein.
Etwas anderes konnte ich nicht zulassen.
Mit dem Tempo, das unsere Kutsche an den Tag legte, würden meine Gönnerin und ich in jedem Fall am Schloss ankommen, bevor König Augustes Leichnam ganz verbrannt war.
Auch wenn ich natürlich wusste, warum wir es so eilig hatten.
Ein vom Wind herangetragener Ast schlug mir gegen die Stirn. Er entstammte dem gespenstigen Fichtenwald, der die Hauptstadt zu allen Seiten zu verschlingen drohte.
Ich zog hastig den Kopf ein und verfluchte mich im gleichen Moment. Hoffentlich hatte der Ast keinen sichtbaren Kratzer hinterlassen. Nicht jetzt. Nicht heute, wo ich vorgeführt werden sollte.
Und hoffentlich hatte Madame Bernard meine Reaktion nicht bemerkt.
Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen. So hatte ich es in meiner Tanzausbildung gelernt.
Eine Minute verging, die Kutsche polterte über das unebene Pflaster, ließ meine Zähne klappern und meine Schulter wieder und wieder gegen das Sitzpolster stoßen. Und genau in dem Moment, in dem ich mich entspannte, kam der Schlag.
Ein scharfer, stechender Schmerz jagte mir durch den Körper und grub sich tief unter meine Haut.
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Nicht laut aufzukeuchen.
Doch natürlich. Wo sonst sollte Madame ihre Augen gehabt haben, wenn nicht auf mir? Ihre Zukunft lag genauso in meinen Händen, wie meine in den letzten sieben Jahren in ihren gelegen hatte. Und ihr mit messerscharfem Eisen besetzter, violettfarbener Fächer – ihr liebstes und teuerstes Accessoire – ruhte in ihrer Hand, Tag ein, Tag aus, solange ich sie kannte.
»Fiona«, sagte sie lieblich, umschloss mit ebendieser Hand mein Bein und grub ihre spitzgefeilten Fingernägel in die Wunde, die ihr Fächer hinterlassen hatte. Tiefer und tiefer, bis ich langsam das Fenster schloss und mich zu ihr umdrehte. »Zeig mir deine Stirn.«
Ich zählte innerlich bis zwanzig, um mich von dem gellenden Schmerz abzulenken, der sich wie ein weißer Schleier über meine Augen legte. Dann beugte ich mich ihr entgegen, den Blick auf ihren blutergussblauen Rock gesenkt. Mein Puls hämmerte in meinen Ohren.
Madame schnalzte mit der Zunge, ein Geräusch, das meine Brust vor Furcht zuschnürte. »Sieh mich an.«
Ich gehorchte. Innerlich zählte ich noch immer.
»Was wäre nur geschehen, wenn dieser Ast dich verletzt hätte, Chéri?«, fragte sie und lächelte. Es war ein freundliches Lächeln.
Das war es auch, was Madame so beängstigend machte.
Denn Joséphine Bernard mochte freundlich verzogene, violett bemalte Lippen haben, in einem Gesicht, dem man ihr Alter von rund vierzig Jahren mit Nichten ansah, freundliche Fältchen um die Mundwinkel und freundliche Sommersprossen auf der Nase und den Wangenknochen.
Ihre Augen aber – aschegrau wie der Himmel über unserem Königreich – waren keineswegs freundlich. In ihnen spiegelte sich ihr wahrer Charakter.
Mit eiskalten Fingern umschloss sie mein Kinn und drückte so fest zu, dass ich Angst hatte, mein Zahnfleisch würde zu bluten beginnen. Nicht fest genug allerdings, um blaue Flecken zu hinterlassen. Diesen schmalen Grat hatte sie über die Jahre hinweg perfektioniert.
Ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, ob sie das von mir wollte.
Sie riss mein Kinn herum, sodass ich wieder nach draußen starrte. In das Armenviertel, das wir gerade passierten, um genau zu sein. Das zumindest erklärte unser angezogenes Tempo.
Klapperdürre, schmutzige Männer, Frauen und Kinder strauchelten mit bettelnd ausgestreckten Händen auf unsere Kutsche zu.
Hätte Madame mich nicht aufgenommen, wäre es mir ergangen wie ihnen. Vermutlich wollte sie mich daran erinnern, … was nicht notwendig war. Die Angst vor einem solchen Leben saß mir jeden Tag, jede Stunde und Minute unangenehm im Nacken. Wie ein Ungeheuer, das seine Krallen in mich schlug.
»Antworte mir, Fiona.«
Mit den Augen folgte ich einem majestätischen Adler, der sich über den Köpfen der Stadtbewohner zur dichten Wolkendecke emporhob. »Ich … weiß es nicht«, sagte ich. Die Wahrheit war, dass ich keine ihrer grausamen Ideen beflügeln wollte.
»Möchtest du, dass ich es dir erkläre?«
Ich schluckte. »Wenn Sie so gütig wären, Madame.«
»Dummes Mädchen.« Sie lachte leise. Es klang, wie von Zucker ummantelt. »Aber natürlich bin ich so gütig.« Einen Finger nach dem anderen nahm sie ihre Hand von meinem Kinn. Madame liebte es, wenn ich mich an ihre Güte erinnerte. Als ich meinen Kopf zu ihr umdrehte, fuhr sie gedankenverloren mit einem Seidentuch über ihren Fächer, um die Blutspur darauf zu entfernen. »Hätte dieser Ast dich im Gesicht verletzt«, sagte sie und hielt inne, um auch ihre Fingernägel von meinem Blut zu säubern, »hätte ich dich gleich hier, in der Gosse, zurückgelassen. Und das hättest du allein dir selbst zu verdanken gehabt. Verstanden, Chéri?«
Oh, wie sehr ich sie hasste.
Das angestrengte Wiehern unserer geschundenen Pferde drang durch die geschlossenen Fenster. Ich warf einen Blick hinaus. Wir fuhren mittlerweile derart steil bergauf, dass es mich unangenehm in mein Sitzpolster drückte. Zu einer Seite fiel ein Hang aus schroffem, grauen Fels zu dem trüb schimmernden See hinab. Zu der anderen eine Schlucht aus Rosen und Dornen — das Tal der Dornen und Rosen —, die sich von dem Plateau, auf dem das Schloss thronte, bis hinab zu den Stadttoren erstreckte. Gänsehaut überkam mich. Wir hatten die Hauptstadt hinter uns gelassen und befanden uns nun auf dem ersten Stück der Handelsstraße, die unmittelbar zum Schloss hinaufführte. Mein Herz begann schneller zu klopfen. In wenigen Hufschlägen würde die Straße in enge Serpentinen übergehen, und dann … dann wären wir auch schon dort. Am Goldenen Schloss.
Das war auch der Grund, aus dem ich mich nicht zu einem gehorsamen Nicken bewegen konnte. Stattdessen lächelte ich auf die gleiche unheimliche Weise wie meine Gönnerin und fragte: »Was wäre dann aus ihrem Platz im Hofrat geworden, Madame?«
Madames Mundwinkel zuckten, das einzige Anzeichen ihres mühsam kontrollierten Zorns. »Vergiss nicht, dass ich bereits Teil des Adels bin, Chéri. Du dagegen …« Sie seufzte. »Du wurdest aus dem Dreck aufgelesen. Du bist ein Niemand. Eine unbedeutende Waise. Hat meine Freundlichkeit dich das vielleicht vergessen lassen?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Und nun versorge dein Bein, bevor du uns vor dem ganzen Hofstaat blamierst.«
Froh, so den Triumph in meinen Augen verbergen zu können, senkte ich den Blick zu meinem Bein, tupfte das halbgetrocknete Blut fort und versorgte die lange, dünne Wunde mit einer heilenden Salbe aus meinem Réticule, ehe ich sie noch mit einer Creme in meinem Hautton abdeckte.
Es brannte, aber das machte mir nichts.
Ich hatte richtig kalkuliert. Wir waren bereits zu nah am Schloss, als dass Madame mir eine weitere Verletzung zugefügt hätte.
Was natürlich nicht bedeutete, dass sie das nicht nachholen konnte.
Als ich mich wieder aufrichtete, kam unsere Kutsche abrupt zum Halt.
Madame fuhr mir lieblos über den halb eingedreht, halb geflochtenen Zopf und kniff mir hart in die Wangen, während ich die goldgelbe Seide meines Rocks glattstrich und meine dunkelrot bemalten Lippen im spiegelnden Fenster kontrollierte – ehe uns auch schon ein Bediensteter die Tür öffnete.
Draußen roch es nach dem Tod.
Nach Feuer und Asche, nach verbranntem Fleisch und penetranten Kräutern.
Unsere Kutsche stand unmittelbar vor einem stark bewachten schmiedeeisernen Zaun in strahlendem Gold, der das gesamte Gelände zu umschließen schien. Noch nie hatte ich einen solch hohen Zaun gesehen. Aus der Kutsche heraus konnte ich kaum seine spitzen Enden sehen. Dabei befanden wir uns noch nicht einmal auf der obersten Ebene, auf der sich das Schloss samt seiner gewaltigen Gartenanlage befand. Ein Gewirr gespenstischer Stimmen senkte sich von dort aus auf uns herab.
»Madame Bernard. Mademoiselle Mollatate«, begrüßte uns der Bedienstete mit einer tiefen Verbeugung. Es war ein kleiner, unsicher wirkender Mann mit Glatze. »Sie werden bereits erwartet.«
»Selbstverständlich werden wir das.« Madame ließ sich mit elegant ausgestrecktem Arm aus der Kutsche helfen. »Und?«
Der Bedienstete blinzelte nervös. »Madame?«
»Wer außer uns wurde noch zu einer Begutachtung geladen?«
»Einundzwanzig weitere Gönner und ihre Protegés, Madame. Bloß die vielversprechendsten Balletttänzer und -tänzerinnen des Landes.«
»Sind sie schon hier?« Sie reckte ihren Hals.
»Nein, Madame.« Nun wandte der Bedienstete sich mir zu, die behandschuhte Hand steif erhoben. »Noch ist niemand eingetroffen –«
Sie schnitt ihm ungeduldig das Wort ab. »Schön.«
Wieder heftig blinzelnd, fügte der Bedienstete kleinlaut hinzu: »Außer Zarian Talhuse, Madame.«
Mit Hilfe des Bediensteten kletterte ich aus der Kutsche, mein Réticule festumklammert. Eine kalte Windböe umtoste mich. Dann endlich berührten meine Schuhsohlen den ebenen, sauberen Pflasterstein — und ich war angekommen. Eine unbedeutende Waise, am Schloss der königlichen Familie des Hofs der Sonne.
»Schön«, wiederholte Madame leise. So klang es allerdings nicht und ich wusste, dass sie mich für diesen Umstand verantwortlich machen würde.
Hatten Monsieur Talhuse und sein Protegé ihr Mitleid bereits bekunden können? Vor uns?
Mit einem Mal wurde mir schwindelig. Die knochigen Hände der Stadtbewohner aus dem Armenviertel reckten sich mir im Geiste entgegen. Sie rissen mich zu ihnen in die Gosse. Und dann war es mein eigenes, abgemagertes Gesicht, das sich an das Fensterglas von Madames Kutsche presste und schrie.
Ein Schauder fuhr meine Wirbelsäule hinauf.
Ich biss mir auf die Zunge.
Schluss damit.
Hinter dem reich verzierten Flügeltor, vor dem wir warteten, erhob sich eine gewaltige Treppe aus dunklem, glänzenden Gestein. Aus Madames Erzählungen wusste ich, dass die Treppe in einen breiten Gartenpfad überging, der unmittelbar vor den Eingangsportalen des Schlosses endete. Auf diesem Pfad musste der Scheiterhaufen erbaut worden sein. Ich konnte die Rauchschwaden des gewaltigen Feuers nämlich schon von hier aus sehen. Sie reckten sich dem düsteren Herbsthimmel entgegen und verschmolzen im schwachen Licht der Nachmittagssonne mit all den Regenwolken ringsum. Ich fröstelte. Hoffentlich würde mir ein Blick auf den in Leinen gewickelten König … oder seine Überreste … erspart bleiben.
Hinter mir knallte eine Peitsche. Pferde wieherten. Und dann ratterte unsere Kutsche davon. Ich sah ihr nach — nur für einen Augenblick — und schwor mir, dass ich Madame nie, niemals wieder in einer Kutsche gegenüber sitzen würde.
Dann hob ich meinen Blick dem Schloss entgegen.
Ein in blutrote Seide gehüllter, junger Mann trat in einer anmutigen Bewegung an den oberen Rand der Treppe … und mir stockte das Herz. Mit seiner imposanten Größe und der drahtigen Statur aus breiten Schultern und wohldefinierten Muskeln, sah er aus, als hätte er höchstpersönlich für die berühmten, goldenen Statuen rings um das Schloss Modell gestanden.
Selbstbewusst, wunderschön und würdevoll.
Keine Frage, er war der attraktivste — und heißeste — Mann, den ich je gesehen hatte. Und das mit Abstand.
Ich biss mir noch ein wenig fester auf die Zunge. Wut stieg aus meinem Bauch auf, brodelnd und heiß. Denn natürlich musste ich ausgerechnet ihn als erstes antreffen.
Kazimir Saint Gervas.
Den Protegé von Monsieur Talhuse.
Meinen erbittertsten Rivalen.
Als er Madame und mich erblickte, wanderten seine dichten, dunklen Brauen in die Höhe. Er verbeugte sich tief, machte aber keinerlei Anstalten, uns zur Hilfe zu kommen. Was mir nur recht war, denn seine Hilfe wollte ich bestimmt nicht. Kastanienbraunes, rötlich schimmerndes Haar fiel ihm in sanften, kurzen Wellen in das blasse, ärgerlicherweise jedoch atemberaubend schöne Gesicht.
Als er wieder aufsah, lächelte er kalt und freudlos.
Madame drückte mir das spitze Ende ihres Fächers in den Rücken und schob mich an einer Gruppe Gardisten vorbei, durch das Flügeltor, zum Fuß der Treppe hin. Widerwillig hob ich den Saum meines bodenlangen Kleides und begann Stufe für Stufe zu zählen. Exakt einhundert waren es.
Den ganzen Weg nach oben sah ich Kazimir direkt in seine flammenblauen Augen und lächelte süffisant zurück. Die Wunde von Madames Eisenfächer pochte schmerzhaft an meiner Wade.
Es war sieben Jahre her.
Dennoch …
Ich würde Kazimir nie verzeihen, dass er mich mit ihr allein gelassen hatte.