1
Verdammte Höflichkeit
Ehrlich, wie schwer war es »Hallo« zu sagen?
Ich meinte, ja, ich verstand durchaus, dass nicht jeder dazu gemacht war, durch die Schulflure zu hüpfen und Umarmungen zu verteilen. Aber Grüßen? Das fiel nicht in die Kategorie schüchtern. Davon ließ ich mich nicht überzeugen. Meine beste Freundin Livia Calpin-Hayes – Livvy, in allen Lebenslagen, die keine offiziellen Dokumente erforderten – war so schüchtern wie Eleven von Stranger Things, in der Phase, in der sie in Mikes Pappcarton-Hütte Zuflucht gefunden hatte, aber wenn Livvy gegrüßt wurde, grüßte sie zurück. So simpel war das. Das war es, was man tat, wenn man als passables, menschliches Wesen durchgehen mochte. Auf der einen Seite stand generelles Laut-sein, auf der anderen verdammte Höflichkeit.
Urg. Ich sollte mich nicht aufregen.
»Sie ist es nicht wert, Divya.« Jamina bemühte sich erst gar nicht die offenkundige Abneigung in ihren Worten zu lindern, ebenso wenig, wie sie ihre ohnehin aufbrausende Stimme senkte. Ihr spitzer Ellenbogen bohrte sich mir mahnend in die Rippen. Dennoch huschte mein Blick zu dem rasch fortsehenden Schwarzen Mädchen, das an uns vorbeieilte.
Zu Tamika Okusanya, meiner Ex-Freundin.
Ihre dichten Locken waren zu einem Tumult aus winzigen Zöpfen gebändigt und ihr leuchtendgelbes Kleid schwang ihr bei jedem hastigen Schritt um die Hüften.
Sie sah aus wie eine Sonne.
»Das ist Zeitverschwendung.« Jamina verbarg ein ausgiebiges Gähnen hinter ihrem Handrücken. »Sie wird sich nicht ändern. Ihr Verlust, wirklich.«
»Trotzdem …« Ich schluckte. »Warum muss sie so tun, als hätte sie mich nie gekannt?«
»Frag mich nicht. Aber wie sie mit dir umgeht, hat nichts mit dir zu tun. Nur mit ihr selbst.« Jamina zupfte in routinierten Bewegungen ihren Hidschab zurecht. Er war im Turban-Stil gebunden und von dem satten Violett einer überreifen Pflaume. Darunter blitzten goldene Ohrreifen hervor.
An dieser Stelle ein kurzer Einschub. Um das klarzustellen: Ja, mir war durchaus bewusst, dass ich keinerlei Recht dazu hatte, Forderungen an meine Ex-Freundin zu stellen. Oder an irgendjemand anderen, der sich dazu entschied, mich aus seinem Leben zu schneiden. Aber ich fand, dass ich es zumindest verdient hatte, ein winziges Zeichen von oh, aha, du, dich kenne ich doch in dem Gesicht eines Mädchens aufblitzen zu sehen, das vermutlich mein Leben ruinieren konnte, mit all den furchtbar peinlichen und wenn ich rückblickend darüber nachdachte auch furchtbar undurchdachten Dingen, die ich ihr über beinahe zwei Jahre hinweg anvertraut hatte.
Ich tippte schnell ein paar Verse in die Notiz App meines Handys. Den Beginn eines neuen Gedichts … vielleicht. Manchmal konnte ich nicht anders. Poesie durchströmte mich und wollte einfach aus mir heraus.
Jamina ließ mich mit einem lauten plopp-Geräusch ihrer tiefroten Lippen zusammenzucken. »Musst du gleich arbeiten?«
»Ja.« Mein Kopf sank gegen das kühle Metall meines schlammgrünen Spindes. Einer Farbe, die bloß von der schieren Hässlichkeit unseres Schulmaskottchens übertroffen wurde. Einer grauschuppigen Forelle. Genau. Einem Fisch.
An den meisten Nachmittagen arbeitete ich nach der Schule in Greensburys Seniorenheim, unter dessen Insassen auch meine Oma war, die mir, nachdem sie vor beinahe sieben Monaten erblindet war, stolz verkündet hatte: »Divya, Liebling, ich komme jetzt auch zu dir auf die Arbeit. Dass du mir bloß diese ganzen Griesgrame vom Hals hältst! Für solchen Pessimismus bin ich nun wirklich zu alt.«
Jamina grinste entwaffnend. Sie war erst zur 11. Klasse aus Edinburgh zugezogen und hatte Livvy – die ich schon seit meinem dritten Lebensjahr kannte – und mich innerhalb eines Montagmorgens mit ihrer feurigen Art um den Finger gewickelt. Genauso schnell war sie auch zu meiner zweiten besten Freundin geworden. Zudem war Jamina Zardari, gelinde gesagt, bezaubernd, mit Beinen eines Models und den durchdringenden Augen einer Raubkatze – tiefbraun und von einem kantigen Eyelinerstrich betont. Heute trug sie verwaschene High Waisted Jeans und einen kurzen, zugeknöpften Cardigan in hellgrau.
»Dann grüß deine Oma Hettie von mir«, sagte sie nun und kreuzte kampflustig die Arme vor der Brust, als eine Gruppe Lacrosse-Spieler sie im Vorbeigehen rammte.
Es war Schulschluss, außerdem Freitag, und die Flure waren geradezu überschwemmt von binären Schuluniformen und Schülern der Sixth Form in Kapuzenpullovern, hellen Levi’s und Sneakern. Mädchen mit French Bangs tuschelten und lachten, Jungen mit wuscheligen Locken grölten. Süßes Parfüm und Angstschweiß strömten schwallweise in meine Nase und vermischten sich mit den abgestandenen Gerüchen von geschmolzenem Käse und billigen Gewürzen, die der Cafeteria entwichen. Wenn ich zu tief einatmete, konnte ich das fettige Mittagessen förmlich auf meiner Zunge schmecken.
Was ich nun wirklich nicht wollte.
Ich zog Jamina dichter zu mir. »Ich nehme dich nie wieder zu ihr mit«, sagte ich scherzhaft. Das war gelogen und wir wussten es beide. Dafür hatte Jamina mir schon zu oft dabei geholfen, Lebensmittel für meine Oma zu besorgen. Wann immer mein Bruder nicht aus dem Bett gekommen war, war sie zur Stelle gewesen. Ich stieß mich von meinem Spint ab, die Hände tief in den Taschen meiner weiten Jeansjacke vergraben. »Sie mag dich ohnehin schon lieber als mich.«
»Das liegt daran, dass sie mich versteht.«
»Weil du schreist.«
Jamina verzog empört den Mund. »Gar nicht wahr.«
»Trotzdem, vergiss es.« Ich hob eine Braue. »Oma Hettie steht nicht zum Verkauf.«
»Wie egoistisch von dir«, sagte Jamina, ehe wir uns beide durch ein Grinsen verrieten. Sie stolzierte rückwärts davon.
»Bis nachher!«, rief ich ihr nach. »Schreib mir, wenn du weißt, wie wir es mit dem Fahren machen können!«
Heute Abend fand eine Hausparty statt und da Livvy nicht mitkommen durfte, waren wir ein wenig aufgeschmissen, was den Rückweg betraf, auch wenn uns das nicht davon abhalten würde dort aufzukreuzen. Irgendwie kamen wir immer nach Hause.
»Mache ich. Keine Sorge, D, ich lasse mir was einfallen!«
Darauf setzte ich. »Viel Spaß mit deinen Trommeln.«
Die hölzernen Drumsticks hoch erhoben, verschwand Jamina um die nächste Ecke, auf dem Weg zum Musikraum und ihrem heißgeliebten Schlagzeug. »Viel Spaß mit deinen alten Leuten!«
2
Feigling
In meinen Kopfhörern dröhnten bereits die Bässe meiner neuen Spotify Playlist, bevor meine weißen Adidas mit der Eingangstür kollidierten und die Schule mich hinaus in die Kälte spuckte.
Es war Mitte Juni. Aber das hier war England. Ein ungemütlicher Wind jagte durch meine blauen Haarspitzen und blies eisigen Nieselregen in meinen Nacken. An den Stellen, an denen meine weite, schwarze Jeans zerrissen war, schoss eine hartnäckige Gänsehaut meine Beine hinauf.
Alles roch lebendig. Nach Erde, nassem Gras und Steinen.
Fröstelnd schob ich mich an einer rauchenden Gruppe vorbei auf die Bushaltestelle hinter dem Hauptgebäude zu und wählte ein neues Lied aus.
Vom Rand des Lacrosse-Felds – der Sportanlage, ursprünglich – schallten wüste Rufe über den vollgestopften Parkplatz. Seit die zwei Sixth Form-Mannschaften der St. George’s High School (meiner Schule) und der Greensbury West zusammengelegt worden waren, war es praktisch unmöglich geworden, sich nach Schulschluss nahe dem Gebäude aufzuhalten, ohne von schamlosen Jungen verfolgt zu werden. Dennoch, dieses Durcheinander machte mich misstrauisch. Es fühlte sich panisch an, nicht feierlustig und das, obwohl das Wochenende begonnen hatte und ein Spiel anstand.
Ich schob meine Kopfhörer zurück.
Neben dem Kofferraum eines schrottreifen Fiats pressten zwei Lacrosse-Spieler einen weiteren Jungen zu Boden und bellten einander sinnfreie Satzfetzen zu. Ich blinzelte den Regen aus meinen Augen. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie pinnten ihm die eigenen Arme fest an den Körper, um sein krampfartiges Zucken zu unterdrücken.
Mein Herz schoss mir in die Kehle.
Verdammt.
Ich wusste sofort, um wen es sich handelte. Das hatte ich schon einmal gesehen. Es war Eleon Okusanya. Tamikas älterer Bruder. Und er erlitt einen epileptischen Anfall.
»Nicht!«, hörte ich mich selbst schreien. »Lasst ihn los und dreht ihn in die stabile Seitenlage!«
Nur ein einziges Mal war ich Zeuge eines solchen Anfalls gewesen – bei einem Tabaski Essen mit Tamikas Familie –, doch meine Hilflosigkeit an diesem Tag hatte sich mir eingebrannt … und eine semiobsessive Google-Suche ausgelöst.
»Scheiße, Alter«, sagte einer der beiden Lacrosse-Spieler. Er war kreidebleich und versuchte Eleons zuckenden Körper herumzudrehen. Ich kannte keinen der beiden, was hieß, dass sie wie er zur West gehen mussten.
»Er ist einfach umgefallen«, sagte der Blonde, mehr zu sich selbst. Auf dem Rücken seines Trikots war der Name Lloyd vermerkt. »Einfach verdammt noch mal umgefallen.«
Ich drehte mich im Kreis.
Eleons lange Glieder krampften weiterhin in unregelmäßigen Schüben und seine dunkle Haut schimmerte kränklich grau, doch immerhin stand er nun nicht länger in der Gefahr, sich seine eigenen Knochen zu brechen.
»Wo ist –« Tamika. Sie musste davon erfahren. Ich musste ihr sagen, was mit ihrem Bruder passierte.
Nein.
Jemand musste ihr sagen, was mit ihrem Bruder passierte. Nicht ich.
Zwischen den mit Schlägern und Ballnetzen beladenen Spielern entdeckte ich einen mir vage bekannten, rotblonden Haarschopf, frisiert in einem geradezu lächerlich perfekten, hohen Dutt.
Ich hörte auf mich zu drehen, rannte los und bremste schlitternd ab. »Henry?«, fragte ich, obwohl ich natürlich wusste, wer der riesenhafte weiße Junge vor mir war. Henry Flynn, Eleons bester Freund. Wie alle Spieler und Spielerinnen um ihn, trug er ein grasgrünes Trikot, auf das in weißen Lettern ST. GEORGE’S und seine Nummer, die 3, auf die Brust gedruckt war.
»Divya Doyle?« Unverkennbarer Schalk blitzte mir aus graublauen Augen entgegen. Ich war mir nie sicher, ob Henry mich leiden konnte, mich nicht verstand oder sich über mich lustig machte. Es war absolut irritierend. Er öffnete erneut den Mund, also kam ich ihm zuvor, bevor er vor den anderen etwas sagen konnte, wie Ich sehe dich ja gar nicht mehr bei den Okusanyas.
»Du musst sofort mitkommen, Eleon –«
Henry sprintete an mir vorbei, ehe ich den Satz beendet hatte. Seine Ohrenspitzen leuchteten scharlachrot, als er stocksteif vor seinem Freund in die Hocke sank. »Habt ihr schon den Rettungsdienst gerufen?«, fragte er, eine Hand im Nacken. Dann impulsiv, als die zwei jüngeren Spieler den Kopf schüttelten: »Idioten.«
Ich kniete ebenfalls neben Eleon nieder. Meine zitternden Fäuste lagen verloren auf meinem Schoß und spitze Schottersteinchen gruben sich in meine Beine.
Sein Handy an die bleiche Wange gedrückt, nickte Henry mir knapp, wenn auch dankbar zu. »Kannst du bei ihm bleiben?«
In meinem Kopf herrschte Leere. »Natürlich.«
Wie regelmäßig diese Anfälle wohl mitleerweile auftraten?
Waren sie schlimmer geworden?
Und was passierte, wenn er einfach nicht aufhörte zu zucken?
Zögernd rutschte ich näher an Eleon heran und schirmte seinen Kopf vom stärker werdenden Regen ab. In seinem Kiefer krampften Muskeln und unter seinem kurzrasierten Haar war sein Schädel sicher kalt.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte ich Lloyd.
»Ein bis zwei Minuten?«
»Hat er Medikamente dabei? Irgendetwas?«
»Ich konnte nichts finden.«
Super.
Ich atmete tief ein. »Ruft seine Schwester an. Wenn ihr ihre Nummer habt.«
Lloyd nickte, dann verschwand auch er hinter einem der parkenden Autos.
»Warte, ich habe es gegoogelt«, kam es von Williams, dem zweiten Spieler. »Epileptische Anfälle können mit Komplikationen verbunden sein … Dazu zählen Wirbelbrüche durch eine Anspannung der Rückenmuskulatur, Platzwunden, Schnittwunden, oder ein Herzstillstand durch –«
»Die erste Hilfe.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Nicht den verdammten Wikipedia Artikel. Lies die erste Hilfe vor!«
Wie sich jedoch herausstellte, gab es nicht viel, was wir tun konnten. Über mein Handydisplay rasten die Zahlen der Stoppuhr. Beinahe drei weitere Minuten waren vergangen, seit ich bei Eleon kniete. Henry war nach seinem Telefonat mit dem Rettungsdienst neben mir in die Hocke gesunken, hatte sein Trikot ausgezogen und Eleons Kopf darauf gebettet. Regen schlug auf die Motorhauben und Frontscheiben der parkenden Autos um uns, so laut wie Donner. Ein Gewitter bahnte sich an.
Ich fragte mich, ob Tamika mittlerweile auf dem Weg hierher war, hoffte es in einem verborgenen Winkel meines Herzens und befürchtete es gleichermaßen.
Ich vermisste sie. Doch so wie sie sich seit unserer Trennung, oder vielmehr ihrem Schlussmachen vor sieben Monaten, verhielt – nämlich meine schiere Existenz leugnend –, so wollte ich sie nicht wiedersehen. So kannte ich sie nicht.
Sekunden flogen vorüber. Reifen quietschten auf dem nassen Asphalt. Vor mir kämpfte sich Tamikas Bruder langsam aus der Bewusstlosigkeit zurück. Sein Krampfen ließ ein wenig nach und seine tiefgrünen Augen flatterten unruhig.
Tamikas vertraute Stimme schallte durch den Regen und durchzuckte meinen Körper wie ein einschlagender Blitz.
Eine Autotür knallte zu.
Und was tat ich?
Ich murmelte eine lahme Entschuldigung, rappelte mich auf und huschte davon, ehe Tamika Okusanya die Gelegenheit dazu bekam, mir das zweite Mal für diesen Tag das Gefühl absoluter Wertlosigkeit in den Rachen zu stopfen.
Aus diesem Grund war Hogwarts sprechender Hut wohl der Überzeugung, dass ich in Slytherin gehörte.