1. Nim
Eisregen raubte ihr die Sicht. Dennoch setzte Nimblia Vindstrøm ihre Jagd fort.
Durch den heulenden Sturm hallte ein Horn.
Nim stockte abrupt und lauschte. Dem tiefen Bariton des Jagdhorns folgte die rasche Klangfolge eines Glockenspiels. Dabei handelte es sich um eine verschlüsselte Nachricht an die Vakyre – die Aufseher Møntfjorts – und an all diejenigen, die diese Musik beherrschten.
An Jäger wie sie.
Die Melodie verlor sich in den trommelnden Tönen des Regens, doch Nim hörte genug: Entflohener Anwärter. Gesucht für Hochverrat. Am Südhang gesichtet.
Die Befehle im Ohr, sprintete sie über die in den Felsen geschlagenen Ebenen des II. Sektors, Axt und Dolch in den Händen. Regen rann ihr Rückgrat hinab und überzog ihren Nacken mit einer Gänsehaut.
Kleine Steinhütten huschten an ihr vorbei. Aus den Ritzen der scheppernden Klappläden, verirrten sich gebrochene Lichtstrahlen in die Dunkelheit und tanzten mit dem Regen zur melancholischen Melodie des Sturms.
»Ich denke nicht, dass wir einen Abend vor der Prüfung solch ein Risiko eingehen sollten«, hatte ihr bester Freund Roberto Armeiro zu bedenken gegeben, als Nim ihn aufgefordert hatte, mit ihr zu kommen. »Denkst du wirklich, dass es das wert ist?«
»Absolut.« Nim war grinsend zurück in den Sturm getreten. »Du wirst schon sehen.«
Rob hatte nicht verstanden.
Ja, es war ein Abend vor ihrer Prüfung und genau aus diesem Grund musste sie den Gesetzlosen schnappen. Denn dann würde der PAX Orden endlich erkennen, wie nützlich sie ihnen sein konnte. Und dann würde sie in ihrer Prüfung einen Vorteil haben, zu einer Hüterin des Friedens ernannt werden. Und dann –
Nim sog einen tiefen Atemzug der klaren Luft ein, die über das Toezakrem Gebirge strömte und von kristallenen Schneeflocken wisperte.
Zunächst musste sie den Anwärter aufspüren.
Um welchen ihrer Mitstreiter es sich wohl handelte?
Im Laufschritt erspähte Nim den schmalen, unebenen Pfad, der sich unterhalb der Ebenen des II. Sektors, parallel zum Berghang erstreckte. Jenseits entfaltete sich der I. Sektor.
Den Blick auf ihre Lederstiefel und ihr Gehör auf die knirschenden Steinchen unter ihren Sohlen gerichtet, stieg sie die schlammig nassen Stufen hinab. Heruntergekommene, windschiefe Stelzenhütten aus Holz überschwemmten den steilen Hang. So engbeisammen erbaut, wirkte es, als lehnten sie sich haltsuchend aneinander.
Nim folgte dem Pfad und rannte, bis sie den Südhang des Gipfelberges erreichte. Immerzu aufmerksam, die Augen zwischen den Stelzenhütten umherhuschend – zwischen dem Geröll aus Felsbrocken und Feuerholz.
Und da, windgeschützt unter einer der Hütten kauerte eine Gestalt: männlich, großgewachsen. Es waren die aufblitzenden Klingen des Waffengurtes, die ihn verrieten.
Nims Arme kribbelten in ungeduldiger Erwartung.
Lautlos verließ sie den Pfad und packte nach dem Jagdhorn, das über ihre Brust geschnallt war, zögerte dann jedoch. Wenn sie den Vakyre signalisierte, wo sich der Gesetzlose befand, war sie nicht länger im Vorteil.
Nein, dachte sie grimmig. Garantiert nicht.
Nim sprang in das Geröll hinab. Sie hatte den Anwärter gefunden. Dies war ihr Fang.
Der Schatten löste sich aus der Dunkelheit und bemerkte Nim in dem Moment, in dem sie ihren Dolch schleuderte.
Die Klinge zischte an ihm vorbei und verfehlte ihn bloß, da er sich hastig zur Seite warf, doch Nim war nicht stehen geblieben, sie war ihrem Dolch gefolgt. Und so hechtete sie auf den Gesetzlosen zu, bekam seine Schulter zu fassen und krallte sich an ihm fest, gerade als er fortlaufen wollte. Dann trat sie ihm von hinten in die Kniekehlen und er krachte vornüber zu Boden, ihr Gewicht auf dem Rücken.
Im Fall drückte Nim ihm den Knauf ihrer Axt in den Nacken.
Der Gesetzlose rammte ihr seinen Ellenbogen in die Magengrube und Nim krümmte sich von einer Übelkeit überwältigt zusammen, die ihr Tränen in die Augen trieb. Sie verstärkte den Druck ihrer Knie gegen sein Steißbein und drosch auf sein zur Seite gedrehtes Gesicht ein – einmal, zweimal – und der Fremde packte ihr Handgelenk und hievte sie über seine Schulter. Er schleuderte Nim von sich, ihre Axt rutschte ihr aus der Hand und sie flog.
Sie landete auf dem Rücken, die Wangen von eisigen Regentropfen benetzt, die Lungen leer. Auf den Knien durch das Geröll kriechend, suchte sie nach ihren Waffen. Hinter dem durchweichten Stoff ihrer Kapuze erspähte sie, wie der Gesetzlose den Hang hinabstolperte.
Nim rappelte sich auf, sammelte ihre Axt und den Dolch ein und jagte ihm nach. Ihre Füße tänzelten über den unebenen Felsen und sprangen von Stein zu Stein.
Um sie herum reihten sich die letzten Stelzenhütten auf, eine Barriere, an die weites, buckeliges Ackerland grenzte. Darauf folgten zerrüttete Klippen, durchbrochen von spärlichem Grün, ersten Grashalmen, Unkraut und kümmerlichen Büschen. Darunter, aufgerissen, wie das Maul eines Untiers, lauerte die Graue Ebene. Ein Tal aus messerspitzem Felsen – ohne Farben, ohne Leben. Ein karges Niemandsland.
Daran angrenzend verspottete sie das Grüne Land. Ein üppiger Wald, voll türkisfarbener Seen und Bergflüssen, voll Füchsen und Wildblumen. Ein Paradies, solange es nicht betreten wurde. Denn der Nayqanische Fluch, den Møntfjorts Ahnen dort verschuldet hatten, kannte bloß den Tod.
Als Nim ihn einholte, krallte sich der Gesetzlose an einem Vorsprung fest, die langen Beine im Nichts schwingend. Dann verschwand er in der Tiefe und sie konnte ihn nicht länger sehen.
Ihre Nerven zitterten vor Anspannung. Sie musste ihn schnappen. Musste.
Nim hechtete auf den Vorsprung zu, schwang ihre Axt nach oben und stürzte ihm nach. Die Klinge kratzte und schabte über den Felsen, den sie haltlos hinabschlitterte. Ihre Stiefel trafen den Jungen direkt in den Rippen und sie rollten gemeinsam den Abhang hinab – bis Nim ihre Axt erneut in den Felsen hieb und der Gesetzlose sich keuchend an ihr festhielt.
Zu einem unfreiwilligen Knäul verheddert, landeten sie schließlich in einer winzigen, nischenartigen Einkerbung des Berges.
In einem Satz war Nim auf ihm, hatte ihn bei den Schultern gepackt, auf den Rücken geworfen und ihm die Kapuze vom Kopf gerissen. Sie erkannte ihn sofort: sein von Sommersprossen gezeichnetes Gesicht und die kurzgeschorenen, hellblonden Haare.
»Griffin?« Den Unterarm auf sein Schlüsselbein gepresst, starrte Nim auf den Gesetzlosen hinab.
Auf Rasmus Griffin, den Sohn ihres Lehrmeisters.
»Nimblia?« Griffin musterte sie aus grünen, intelligenten Augen. »Was zum Verto … Du arbeitest für die Vakyre?«
Nim hob eine Braue. »Für den PAX Orden«, korrigierte sie.
Theoretisch.
»Hör zu«, sagte Griffin dringlich, woraufhin Nim sogleich ihren Griff verstärkte. »Ich habe etwas gehört, das ich nicht hätte hören sollen.« Seine hellen, von Regen benetzten Wimpern flatterten unruhig. Dann sah er zu ihr auf und sie spürte, wie er vergebens nach Mitgefühl oder Verständnis in ihren Augen forschte. »Deshalb werde ich gesucht. Du musst mir helfen.«
»Nein. Nein, das muss ich nicht.« Nim schnaubte. »Warum sollte ich? Du hast mir vermutlich gerade meinen Platz gesichert.«
»Deinen Platz? Glaub mir, den willst du gar nicht.«
»Falsch.« Nim zog ihren silbernen Dolch hervor und richtete ihn auf seinen Torso. Die Schneide der Axt tippte rhythmisch gegen seine Halsschlagader. »Du willst ihn offensichtlich nicht. Ich hingegen …« Ich habe mich dafür kaputt geschuftet.
»Nimblia.« Griffin knurrte frustriert. »Du kannst ihnen nicht vertrauen. Dem Orden. Du kannst ihnen nicht trauen!«
Ach, ja?, dachte Nim. Sinneswandel über Nacht?
Laut sagte sie: »Ehrlich, Griffin. Du kannst aufhören. Wir wissen beide, weshalb du vor den Prüfungen davonrennst.« Ihr Lächeln wurde diabolisch. »Du hast Angst deinen Vater zu enttäuschen.«
»Was? Nein, du musst mir glauben!«
»Ich muss dich in die Markthalle zu den Vakyre bringen, das muss ich.«
»Bitte, Nimblia.«
»Na schön. Dann was, bitte, hast du denn gehört, das du nicht hättest hören sollen?«
»Das … kann ich nicht verraten.«
Nim verdrehte die Augen. »Und wie soll ich dir dann glauben?«
»Irgendwann wirst du es verstehen. Irgendwann wirst du dich an meine Warnung erinnern.« Griffins helle Brauen zogen sich in einem Anflug von Trauer zusammen. Dann veränderte sich etwas in seinen Zügen und er riss seine Knie nach oben, direkt in ihren Bauch.
Nims Axt rutschte über seine Schläfe ab und sie schrien beide auf. Griffin vor Schmerz, Nim vor Zorn. Irgendwie gelang es ihm, sich unter ihr hervorzuwinden und auf die Beine zu kommen.
Nim schleuderte erneut ihren Dolch. Diesmal bohrte er sich mit einem befriedigenden Flonk direkt in seine Wade. Griffin sank brüllend auf die Knie. Er riss die Klinge heraus, bevor Nim wieder auf ihm war. Rubinrotes Blut klebte an seinen Händen, an ihrem Dolch. Nim unterdrückte ein Würgen, rammte ihm ihren Ellenbogen zwischen die Schulterblätter und versuchte seine Arme zu packen.
Griffin kam ihr zuvor. Das Gesicht in den Dreck gedrückt, angelte er blind nach ihr, bekam ein Handgelenk zu fassen und drehte es, bis Nim losließ. Tränen brannten in ihren Augen. Dann warf Griffin sich herum und begrub sie unter seinem Gewicht.
Nim glaubte zu ersticken, hatte weder Hände noch Beine zur Verteidigung. Also biss sie ihm in den Hals, bis sein Blut an ihren Lippen klebte. Sich aufbäumend, rollte Griffin von ihr herunter. Nim folgte ihm mit ihrer Faust, doch Griffin fing sie ab. Fluchend spuckte sie aus und sprang auf die Beine, sodass sie über ihm thronte.
»Nimblia.« In einem Satz stand Griffin ihr erneut gegenüber, zuckte zusammen, als sie ihn wiederholt in die Seite trat und hob sie in die Luft, wo sie sich frustriert umherwarf. »Weißt du eigentlich«, setzte er, ein seltsam unpassendes, gepeinigtes Schimmern in den Augen, »wer deinen Bruder ermordet hat?«
Die Worte rangen in Nims Ohren, dann schleuderte Griffin sie von sich und kehrte ihr den Rücken zu, während Nim im Geröll zu zittern begann.
Sie starrte ihn an, doch die Ränder ihrer Sicht verschwammen.
Tjorven, hallte es in ihrem Kopf. Tjorven. Tjorven.
»Eine PAX Botschafterin«, beantworte Griffin seine eigene Frage schließlich. »Es war eine PAX Botschafterin, die ihn getötet hat.«
Eine Hüterin des Friedens.
Unmöglich.
Doch Griffin hinkte davon.
Nim setzte sich auf, durchzuckt von Schmerzen. Unter ihr rauschte das wilde Gewässer eines Bergflusses und sie verlor sich in diesem Geräusch. In ihrem Kopf herrschte Leere. Wut pulsierte in ihren Venen. Dieser verfluchte Mistkerl. Sie glaubte ihm kein Wort.
Keuchend drehte sie sich auf den Bauch, um nach ihren Waffen zu sehen, die weiter den Berghang hinabgerutscht waren, stieg abwärts und fand sich schließlich in der Grauen Ebene wieder. Ihr Schädel hämmerte, doch sie zwang sich auf die Beine und rieb die nassen Steinchen, die an ihren Handflächen klebten, an ihren Oberschenkeln ab. Dann griff sie nach ihren heruntergefallenen Waffen und erstarrte.
Am Ufer des Forsø lag ein weiterer Mitstreiter. Die Strömung zog an ihm, wie an einem angespülten, toten Ast, blähte die Ärmel seines Mantels auf und schwappte in sein Gesicht, das im Schlamm versank. Nim erkannte ihn auch trotz der bläulichen Färbung seiner Lippen. Die markante Kieferlinie, die zerzausten brauen Locken, den vorlauten Mund.
Hastig stiefelte sie durch den Schlick auf den reglosen Körper zu und schleifte ihn aus den eisigen Fluten.
Bedauerlicherweise war er noch am Leben.
Bewusstlos, doch am Leben.
Nim sandte ein überschwängliches Stoßgebet an die Schutzgeister. Diesem Mitstreiter sein dümmliches Grinsen auszutreiben, darauf wartete sie seit einer Ewigkeit. Mit ihm und Griffin auf der Flucht vor der Prüfung und dem, was danach folgen mochte, war Nim ihrem Titel als Hüterin des Friedens mit einem Mal viel nähergekommen.
Was die Lehrmeister des PAX Ordens wohl sagen würden, wenn sie erfuhren, dass selbst ihr Lieblingsanwärter versucht hatte zu fliehen? Trotz der ganzen Sonderbehandlungen und Lobpreisungen, die er erhalten hatte?
Nim verzog den Mund.
Zumindest wusste sie, wie die Strafe der Vakyre ausfallen würde.
2. Braeve
Braeve Thomson blinzelte zu verschwommenen Gewitterwolken auf, von einem Brennen erweckt, das sein Rückgrat hinaufschoss. Orientierungslos verfolgte er, wie Felsbrocken unter seinen Stiefelspitzen davonglitten, ehe sein Kopf zurückrollte und er irritiert feststellte, dass jemand ihn bei den Handgelenken gepackt, durch den I. Sektor schleifte. Starke Hände einer schmächtigen Gestalt zerrten ihn mit purer Willenskraft vorwärts. Und das nicht gerade sanft.
Mit einem Ruck befreite Braeve seinen linken Arm und umschloss den Knöchel dieser fremden Person, die sogleich fluchend umkippte. Das Brennen verschwand für eine erholsame Sekunde, ersetzt durch das Gefühl winziger Nadeln, die sich in seine Haut gruben. Braeve zischte.
Eisblaue Augen blitzten über ihm auf, sichtlich verärgert über sein Erwachen. Rabenschwarze, kurze Wellen kitzelten an seinen Schläfen.
»Nim«, krächzte er. »Was …?«
Nimblia Vindstrøm, eine seiner Mitstreiterinnen in der Ernennung zum Hüter des Friedens, kniete über ihm, ein falsches Lächeln im Gesicht, das sein eigenes, träges Grinsen spiegelte. Eine Axt schimmerte in ihren vernarbten Händen. Dann schwang der hölzerne Griff in einer flinken Bewegung auf ihn zu und die Schwärze raubte ihn erneut.
WENIGE STUNDEN ZUVOR saß Braeve am Flussufer des Forsø, die Beine angewinkelt, die Hände von azurblauer und tiefgrüner Farbe besprenkelt. Das wilde Rauschen des kristallklaren Flusses umhüllte ihn. Silbrige Karpfen schillerten zwischen dem hellen Gestein und kämpften stetig gegen den Strom. Braeve fühlte sich ihnen seltsam verbunden. Auch er hatte sich in den vergangenen Jahren immer dichter an die Grenze zum Grünen Land gewagt, die Erwartungen seines Vaters im Hinterkopf. Denn je näher er dieser verbotenen Welt aus Birken und Fichten, Farben und Leben kam, desto begehrter wurden die Werke, die er auf dem Schattenmarkt verkaufte.
Ein Rascheln durchbrach das stetige Rauschen des Flusses, dicht gefolgt von einem Knacken.
Braeve hob den Kopf, der Pinsel in seiner linken Hand stockte und der Zeichenblock rutschte von seinen Knien. Innerhalb eines Herzschlags war er auf den Beinen. Er hatte Braunbären aus dem Grünen Land schreiten sehen, Luchse und Elche. Nie jedoch einen Menschen. Blond und voller Locken, groß und stämmig wie eine Kriegerin.
Braeve stolperte auf sie zu, die Zunge verknotet. Doch bevor er seinen Schock überwinden konnte, hob die Fremde ihren Arm zu einem Gruß, der ihn erstarren ließ und ihre Axt donnerte gegen seine Schläfe.
ETWAS GLITSCHIGES TÄTSCHELTE seine Wange.
Ein Stiefelabsatz. Insofern ein Stiefel denn tätscheln konnte. Die Sohle stank genauso abscheulich, wie seine übrigen, vom Schlick des Forsø steifen, Kleidungsstücke. Seine Haut fühlte sich an wie aufgeschürft und verbrannt, doch zumindest ahnte er, wo er sich befand, denn in der Markthalle herrschte wie üblich heilloses Durcheinander. Bereits hinter der hoch vor ihm aufragenden Eisentür, am Ende des Tunneleingangs, schallten die aufgebrachten Stimmen aus dem Herzen des Gipfelbergs wieder.
Braeve wich dem Stiefel aus. »Ich wäre dir wirklich sehr verbunden, wenn du das bleiben lassen würdest.«
»Na, endlich.« Nim neigte den Kopf. »Ich dachte schon, ich hätte dich umsonst den verfluchten Gipfelberg hochgeschleift.«
Für diese Befürchtung wirkte sie allerdings ziemlich ruhig. »Es ist ja nicht so, als hättest du mich selbst laufen lassen …«
»Wahr.«
»Also«, setzte Braeve gedehnt an, während es ihm wiederholt misslang sich aufrecht zu setzen. »Interessiert, mich aufzuklären? Womit habe ich es verdient, von dir gefesselt zu werden?«
Nims Lippen verzogen sich angewidert. »Ich werde dich melden.« Sie trat ihn erneut, diesmal gegen den Oberschenkel. »Wenn du denn genug geruht hast?«
»Nim, lass das.«
Das tat sie nicht.
»Nim.« Braeves Brauen wanderten nach oben. »Wofür willst du mich überhaupt melden? Für meine Dummheit, mich bewusstlos schlagen zu lassen?« Zwei mal.
»Für deinen Fluchtversuch.«
»Meinen was?« Braeve verschluckte sich an einem Lachen. »Hältst du mich wirklich für jemanden, der kneift? Aus was, Angst?«
»Sag du’s mir.«
»Das ist lächerlich, Nim. Und das weißt du.«
Sie reckte ihr spitzes Kinn. »Willst du abstreiten, dass ich dich an der Grenze zum Grünen Land in der Grauen Ebene gefunden habe und dass dieser Weg nach Truñcate führt?«
Braeve zog seine Schultern gegen den beißenden Wind hoch, der in den Tunnel wehte. »Warum sollte ich? Das wäre gelogen.«
Nim schnaubte. »Ich weiß, du musst durch deinen ganzen Einzelunterricht vergessen haben, woher du stammst, aber wir anderen hier im I. und II. Sektor ertragen gewisse Konsequenzen, das heißt Narben, für solche Gesetzesverstöße.«
»Du hast wohl noch nie meinen Arm gesehen, was?«
»Was auch immer das bedeuten soll.« Nim sank vor ihm in die Hocke, eine Hand am Griff ihres Dolches. »Nun, willst du warten, bis ein Vakyre vorbeispaziert oder kommst du freiwillig mit mir?«
»Ich könnte auch einfach weglaufen.«
»Oh, bitte.« Ein Grinsen durchbrach die unleserliche Maske ihres Gesichts. »Du siehst aus, wie vom Fluss ausgespuckt.«
»Immer so charmant.« Braeve rappelte sich auf, doch seine Beine zitterten. Nim war sogleich an seiner Seite, die Kette seiner Handschellen fest umschlossen.
»Warte.« Braeves Lider senkten sich zu ihr herab, zu diesem Mädchen, das ihn einen Berghang hinaufgezerrt hatte, bloß damit er bestraft wurde. Erst als er es aussprach, formte sich die Wahrheit in seinem Kopf. »Willst du mich aus dem Weg räumen?«
Nim sah zweifelnd zu ihm auf. »Wenn ich dich hätte umbringen wollen, hätte ich dich wohl kaum –«
»Nicht umbringen. Du willst dafür sorgen, dass ich aus der Prüfung ausscheide.«
»Mhh«, machte Nim und gestand, betont sanft: »Schuldig.« Einfach so. »Und jetzt geh.«
Braeve lachte auf. »Spar dir den Versuch. Ehrlich, geh lieber schlafen. Wie spät ist es überhaupt?«
»Fünf.« Nim warf sich schwungvoll gegen die Metalltür, woraufhin Braeves Handschellen ihm schmerzhaft ins Fleisch schnitten.
Braeve zerrte seine Mitstreiterin wieder dichter zu sich. »Morgens?«
Die Tür schwang auf und Nim zog ihn durch die Markthalle, die hellen Augen eine Flamme eiskalten Zorns. Entschlossen glitt sie an sämtlichen Ständen vorbei und hinterließ überall dort, wo ihre abgetragenen Stiefel auf den Steinboden polterten, einen Sumpf aus Schlammpfützen. Die Hände nach vorn gebunden, folgte ihr Braeve gemütlichen Schrittes, sodass sich die Kette zwischen ihnen rasselnd straffte und Nim dazu zwang, ihren Marsch zu verlangsamen. Um sie herum wirbelte der Duft von warmem Brot, geräucherter Wurst und knackigem Gemüse, vermischt mit dem Gestank von fauligem Atem und ungewaschenen Leibern.
Wer genau hinsah, konnte erkennen, dass, sobald die Vakyre sich abwandten, nicht länger mit Redde – der einheitlichen Währung der Vereinten Nationen – gezahlt, sondern mit Ware gehandelt wurde. Dies unterschied den Schattenmarkt von dem herkömmlichen Markt.
Braeve erspähte eine wettergegerbte Bäuerin, die einem schlaksigen Jungen eine Salami aus der Hand nahm und ihm dafür knubbelige Kartoffeln in die Jackentasche plumpsen ließ. Einen Wimpernschlag später war der Junge bereits verschwunden. Verschmolzen mit den Schatten. Braeve musste schmunzeln. Dafür, dass die Vakyre aus dem III. Sektor stammten – dem Dienstleistungssektor mit der höchsten Bildung Møntfjorts –, ließen sie sich ziemlich leicht an der Nase herumführen. Dennoch, in den vergangenen Jahren hatten sie ihm das Leben derartig oft und völlig unnötig erschwert, dass es Braeve schwerfiel, sie nicht allesamt zu verabscheuen. Doch schließlich erfüllten auch sie bloß die Befehle von Møntfjorts Cavud – dem Regierungsoberhaupt Eliza Tronkin.
Braeves Aufmerksamkeit huschte zurück zu Nim, die ruckartig zum Stehen gekommen war.
Ein Vakyre löste sich aus den Reihen der Marktbesucher. Es war sein aufrechter Gang, die blau-schwarze Uniform und der stechende Blick, der die Menge hastig zurückweichen ließ. Er war groß und hager und sein Schädel bloß von dünnen Haarsträhnen bewohnt, die einsam in sämtliche Richtungen lagen. »Nenn dein Anliegen«, herrschte er.
Braeves Oberlippe kräuselte sich, konfrontiert mit dieser offenkundigen Arroganz.
»Ich bringe Euch den Gesetzlosen.« Nim riss Braeve dichter zu sich. »Den entflohenen Anwärter.« Dabei deutete sie auf das Jagdhorn, das um ihre Brust geschnallt war. Das Attribut der Jäger der Vakyre.
Der Vakyre fixierte Braeve mit seinen Hühneraugen, packte ihn am verkrusteten Haar und drehte grob sein Gesicht. »Sein Aussehen trifft nicht auf die Ausschreibung zu.« Braeve grinste, ein Lächeln bloß aus Zähnen. Sein Blut tobte unter seiner Haut. »Auch wenn das unter dem ganzen Dreck natürlich –«
Nim trat energisch vor. »Weil das nicht Rasmus Griffin ist«, sagte sie. »Sondern Braeve Thomson.«
Braeve hörte kaum, was der Vakyre darauf antwortete. Ein eisiger Schauer lief seinen Rücken hinab. Rasmus Griffin war auf der Flucht? War auch das Nims Verschulden? Wollte sie so an einen Platz als Hüter des Friedens gelangen?
Der Vakyre stieß seine Stirn fort und rieb sich die Handflächen an der dunklen Uniform sauber. »Ihn suchen wir nicht.«
»Nicht mehr, richtig«, lenkte Nim süßlich ein. »Ich habe ihn an der Grenze zum Grünen Land gefunden. Er lag bewusstlos am Ufer des Forsø und wäre vermutlich ertrunken, wenn ich ihn nicht aus dem Wasser gezogen hätte.«
»Tatsächlich?« Der Vakyre legte eine Hand an seinen buschigen Bart.
»Tatsächlich.«
»Und, Junge, was sagst du?« Die Hühneraugen glitten zurück zu ihm. »Trifft diese Aussage zu?«
»Das tut sie, Herr.«
Nim wirbelte zu ihm herum. Braeve konnte ihr ansehen, dass sie mit einer Lüge gerechnet hatte, dabei hätte sie einfach weiter nachfragen brauchen. Misstrauen legte sich wie ein Schatten über ihre Züge.
Doch Braeve log nicht.
Und Nim traute dem nicht.
Weshalb sie seine Worte mit einem präzisen Hieb gegen seine Schläfen erwiderte.
Es riss Braeve die Beine fort. Er kippte zur Seite und donnerte auf den schmutzigen Steinboden.
»Was sollte das denn?« Die Stiefel des Vakyre wanderten langsam zu Nim herum.
Diese beugte sich zu Braeve herab, einen kalten Zug um den Mund. »Entschuldigen Sie vielmals, Herr. Ich bin überzeugt, er wollte mir gerade entfliehen.«
Das deutliche Surren einer lieblichen Melodie, der Klang der Lügen, breitete sich in Braeves Hinterkopf aus und nahm ihn vollständig ein, ehe sie ihn noch einmal trat und er erneut davondriftete.
BRAEVE ERWACHTE IN einer schlammigen Pfütze hinter Gitterstäben. Zugegeben, er hatte Nims Skrupellosigkeit unterschätzt.
Stöhnend stützte er sich auf die Unterarme. Sein Blick huschte durch die Schatten der Zelle, doch von seinem Rucksack war keine Spur. All die Bilder darin, verloren. Verto.
Er zog sich an den Stäben nach oben, die pochende Stirn an das kühle Eisen gelegt. Immerhin war er nicht länger gefesselt.
»Aufseher!«, brüllte er mit rauer Stimme in die Markthalle hinein, in das Durcheinander aus Bauern und patrouillierenden Vakyre. Wie viel Zeit war vergangen? Hatte die Prüfung vielleicht bereits begonnen? »Weshalb genau werde ich hier festgehalten?«
»Gedächtnisverlust?«
Braeve schloss die Augen. Er kannte diese Stimme. Es war nicht der hagere Vakyre, den Nim aufgelesen hatte, sondern eines der Monster, das seine Haut in einen Teppich aus schwülstigen Narben verwandelt hatte. Yorick Anderson.
Beginnend an seinem rechten Schlüsselbein reichten Braeves strichförmige Narben mittleerweile bis über seine Armbeuge hinaus. Diese waren eine grausame Bestrafung Møntfjorts, die verriet, wie oft er das Gesetz gebrochen hatte.
Hinter den massiven Eisenstäben rollte der bullige Vakyre mit den Schultern, den Kopf zur Seite gelegt. Sein Schweigen wirke beinahe amüsiert. Dann erklärte er, in einer Stimme, die selbst dann weich blieb, wenn er tiefe Kerben in Kinderarme ritzte: »Für deinen Fluchtversuch.«
»Schwachsinn.« Braeves Finger schlossen sich fester um die Gitterstäbe. »Ich hatte nie vor zu fliehen. Beide Male nicht. Eine Frau hat mich in der Grauen Ebene bewusstlos geschlagen.«
»Die Jägerin, die dich hierhergebracht hat?«
»Nein. Eine Fremde.«
»Aha. Und was wollte sie von dir?« Es war offensichtlich, dass Yorick ihm nicht glaubte. Wenn es ihn denn überhaupt interessierte.
Braeve biss sich auf die Zunge. »Woher soll ich das wissen? Zwischen ihrem Erscheinen und dem Schwingen ihrer Axt war nicht wirklich Zeit zu fragen. Falls du verstehst.«
Die fleischigen Wangen des Vakyre verfärbten sich in einer fleckigen Palette der unterschiedlichsten Rottöne. »Pech mit Frauen, was?«
Braeves linke Hand schoss vor, durch die Gitterstäbe und an den Rachen des Mannes. Im Augenwinkel nahm er wahr, wie sich sämtliche Marktbesucher zu ihm umwandten – zu seiner Faust, die einen Vakyre gepackt hielt. Ein Todesurteil. Braeves Stimme überschlug sich, denn wenn Møntfjort ihn schon beobachtete, dann würden sie hoffentlich auch hinhören. »Im Grünen Land hält sich eine Fremde auf. Eine Fremde, im Grünen Land!« Seine Faust, die sich um den Kragen der dunkelblauen Uniform krallte, begann zu zittern. Wieso verstand niemand, was das bedeutete?
»Lüg mich nicht an.« Der Vakyre schüttelte seine Hand ab, wie ein lästiges Insekt. »Das Grüne Land ist verflucht. Ein jeder, der einen Fuß in diesen Wald setzt, stirbt.«
Braeve drängte sich weiter gegen die Gitterstäbe. Hinter dem Vakyre war die kleine Schar an Marktbesuchern näher gerückt und nun spürte er, wie sie lauschten. Ein eleganter Junge mit ebenholzbrauner Haut und bedecktem Haar, der ungefähr in seinem Alter sein musste, verfolgte jede seiner Bewegungen mit einem stechendblauen Blick. Daher erhob Braeve die Stimme und zwang die gesamte Markthalle zuzuhören. »Tag und Nacht vereint den Fluch werden brechen. Eis und Feuer 300 Jahre Knechtschaft rächen«, zitierte er. Dies waren die ersten beiden Verse der Nayqanischen Prophezeiung »Das Ende der Fluchzeit«.
Braeve holte scharf Luft. Eine gespenstige Stille, schwer und voller Ehrfurcht, war seinen Worten gefolgt. Der Effekt überzog seine Arme mit einer kribbeligen Gänsehaut. »Wer sagt, dass der Fluch noch wirkt? Die 300 Jahre sind in weniger als zwei Jahren vorbei. Die Prophezeiung –«
»Die Prophezeiung wurde von einem Spinner verfasst, der dummem Gesindel Hoffnung schenken wollte. Und wie du weißt, ist es verboten, darüber zu sprechen, als entsprächen die Zeilen der Wahrheit«, unterbrach ihn der Vakyre.
Doch gegen das aufwallende Raunen konnte Yorick anschreien, wie er wollte. Der Schattenmarkt hatte Braeve gehört und das konnte er nicht rückgängig machen.
»Den Fluch werden brechen«, wisperte es um ihn herum, hallte es von dem dunklen Berggestein wider. »300 Jahre Knechtschaft rächen.« Dies waren Worte, die den Møntoe wieder und wieder geraubt worden waren, doch an die ein jeder sich erinnerte, der noch Hoffnung im Herzen trug.
Braeves Ohren rauschten. Auch wenn sein vorlautes Mundwerk ihn oft, zu oft, in Schwierigkeiten brachte, konnte er seine Zunge in Nähe der Aufseher meist nicht zügeln. Adrenalin jagte durch seine Glieder und Braeve grinste Yorick entgegen. »Wieso gehst du dann nicht ins Grüne Land und überzeugst dich selbst?«
Die Marktbesucher, die zu einem engverknoteten Halbkreis um den Vakyre zusammengewachsen waren, brachen in schallendes Gelächter aus. Ihr Anblick erinnerte Braeve an ein Rudel schmutziger Wölfe, die nach einem regnerischen Tag Schlamm und Dreck von sich schüttelten.
»Das Grüne Land ist verflucht«, wiederholte der Vakyre und obwohl sein gleißender Blick Braeve galt, war seine Botschaft auch an die Møntoe hinter seinem Rücken gerichtet. An das Wispern und die Verse der Prophezeiung. »Sicher wird das selbst euch Staubfängern beigebracht.«
Braeve verzog den Mund, doch die neugierigen Marktbesucher krümmten beschämt die Schultern.
Staubfänger. Eine hübsche Beleidigung für jene, die außerhalb der Berge aufwuchsen, zwischen Felsbrocken und Schmutz. Im Gegensatz zum III. Sektor, dem die Vakyre entsprangen.
Braeve zwang sich zur Ruhe. Sein Blick kreuzte sich mit dem des blauäugigen Jungen. »Wir sind mehr als Staub«, sagte er und sah, wie der Junge in stummer Zustimmung sein Kinn vorschob. Es war eine stolze Geste, beinahe so rebellisch wie Braeves Worte selbst. »Und wir sind nicht auf das angewiesen, was der III. Sektor uns beibringt.«
Denn seit Jahrzehnten schon wehten die Verse dieser Prophezeiung durch das Gebirge Møntfjorts und beschworen das Ende der Fluchzeit. Den Tag, an dem der Nayqanische Fluch gebrochen und jedes, verfluchte Land der Vereinten Nationen wieder bewohnbar wurde. Wie ein Flüstern wanderten die Worte umher und säten Angst, Hoffnung und Zorn. Doch wann immer sich das Flüstern erhob, wurde dessen Quelle versiegelt – die Verantwortlichen gesteinigt – und die Prophezeiung geriet erneut in Vergessenheit.
Unfug, verkündete die Regierung.
Aber …, raunten die Møntoe hinter vorgehaltenen Händen.
Was, wenn sie tatsächlich die unbarmherzigen Berge verlassen konnten?
»Genug!«, sagte der Vakyre, woraufhin die Menge kollektiv zusammenzuckte. Die Furcht vor den Strafen der Regierung war förmlich greifbar in der abgestandenen Luft.
Diese hatte Braeve vor langer Zeit abgelegt, den dazugehörigen Respekt ebenfalls. »Hast du etwa Angst, dass ich Recht habe?«
»Genug«, sagte Yorick erneut, diesmal bloß für ihn bestimmt. »Es sei denn, du brauchst eine kleine Erinnerung. Soll ich deiner Mutter einen kurzen Besuch abstatten? Sicher hast du nicht vergessen –«
»Nein.«
»Das dachte ich mir.«
Braeve drängte sein Gesicht näher an die Gitterstäbe. Panik kroch aus seiner Brust empor. »Kann ich dann gehen?«
»Du wartest schön hier, bis wir eine Antwort von der Cavud erhalten haben.« Yorick trat zurück.
»Weshalb?« Braeve rammte seine Faust gegen das Eisen. Er durfte nicht zulassen, dass der Mann fortging. »Ich habe Besseres zu tun, als in diesem Loch auf eine Antwort von Eliza Tronkin zu warten, die ich bereits kenne.« Er zwang Stärke in seine Stimme. Eine Selbstsicherheit, die zu schwinden drohte.
Yorick drehte sich zu ihm um. Zu dem Lärm, den er verursachte.
Braeve hielt seinem Blick stand, bis der Vakyre genervt nach seinen Fäusten griff. »Wie du sehr wohl weißt, findet gerade eine Prüfung statt, an der ich teilnehmen sollte.«
»Und du erwartest, dass ich dich gehen lasse, nachdem du gegen sämtliche Gesetze verstoßen hast?«
»Ja. Weil nichts davon der Wahrheit entspricht.«
»Interessant.« Yorick legte den Kopf schief. »Und was würdest du dafür tun?«
Braeves Magen verkrampfte sich. Sein Blick musste dem Mann genug verraten. Alles, wenn er sich bloß von seiner Mutter fernhielt.
Yorick überreichte ihm durch die Gitterstäbe einen Dolch. Mit der Klinge zuerst.
Braeve begriff sofort – und nahm ihn ohne Zögern entgegen.
3. Endu
Wo bleibt Griffin?
Enduren Sunqvist stand einsam am Fuße einer monströsen Tropfsteinhöhle des Gipfelbergs, umringt von den Lehrmeistern und seinen Mitstreitern.
Um die ebene Fläche aus klirrenden Waffen, nervösem Gelächter und unsicheren Unterhaltungen, erhoben sich die rauen Felswände trichterförmig zur feuchten, glitzernden Decke. Uralte Stalakmiten wanden sich um die treppenartigen Tribünen, spitz wie Stachel.
Dies war der Stützpunkt der Soeddjås – der Garde des PAX Ordens –, die sich zu Tausenden versammelt hatte, um die Ernennung der Hüter des Friedens zu verfolgen. Männer und Frauen, allesamt wuchtige Krieger, stark und zäh, wie die Blauen Puma, deren Fell sie am Leib trugen. Und Endu war ihren Blicken ausgeliefert, war nicht mehr als ein blasses Nervenbündel, auf das sie hinabstarrten.
Monster, Waffe der PAX – er hörte ihre gewisperte Verachtung, hörte ihr Urteil, das sie selbst dann nicht unterbanden, wenn er in Hörweite war. Besonders dann nicht.
Endu konnte ihnen nur im Stillen zustimmen, auch wenn diese Worte sich wie eine Faust um sein Herz legten und drückten.
Er reckte den Hals, überblickte all die umherwuselnden Gestalten und hielt nach einem vertrauten, hellblonden Haarschopf Ausschau. Doch Griffin fehlte nach wie vor. Dabei hätte er an diesem Tag an der Seite seines Vaters stehen müssen, stolz und wissend, dass auch ihm die Ehre als Botschafter zu Teil wurde. Rasmus Griffin stand seinem Vater, einem Lehrmeister und ehemaligen Hüter des Friedens, in nichts nach. Sei es in Kriegskunst, Intrige oder Politik, welche Aufgaben ihnen auch entgegengeschleudert worden waren, Griffin hatte sie mit Leichtigkeit gemeistert. Und so hatten sich von den fünf Anwärtern des Nordbergs – ihrer gemeinsamen Heimat –, bloß zwei zur finalen Prüfung qualifiziert.
Endu und Griffin.
Doch nun war Griffin nicht hier und Endu wurde zunehmend unruhig. Denn obwohl auch sein ehemaliger bester Freund ihn verabscheute, konnte Endu mit diesem Hass leben; schließlich war es der gebündelte Hass einer Person, die jeden Grund dazu hatte, ihn zu meiden.
»Wo steckt Braeve?« Ghalyela Furah schritt eilig durch die Menge. Ihre starken Hände schoben die Anwärter energisch auseinander. »Hat jemand Braeve Thomson gesehen?«
Endu kannte den Namen. Braeve. Braeve war der Einzige unter ihnen, der Einzelunterricht bekam. Dass nun zwei der vielversprechendsten Anwärter fehlten, bereitete ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend.
Ghalyelas gleißende Bernstein-Augen glitten von Gesicht zu Gesicht und lösten sich erst dann, wenn eine stumme Reaktion folgte. Eine Welle knappen Kopfschüttelns ging durch die Versammelten. Schließlich baute sie sich auch Endu gegenüber auf, gehüllt in eine furchteinflößende Aura der Macht. Ihre Stirn war von einem Halbkreis grüner Farbe umrahmt, ihre Brauen von gelben Balken betont, deren Echo in dicken, regelmäßigen Punkten auf ihren Wangenknochen zu entdecken war, und über ihre breite Nase, hinab bis unter die vollen Lippen, zog sich ein hellblaues Band aus Farbe. Ihr dunkler Teint schimmerte darunter, warm und intensiv, wie die Sonne über dem Wüstenland Kua Hêruvi, aus dem sie als Hüterin des Friedens hervorgegangen war.
Endu schüttelte bedauernd den Kopf. »Und Rasmus?«, fragte er die junge Lehrmeisterin. »Wissen Sie, wo er sich befindet?«
Ihr schwarzes Haar peitschte beim Herumwirbeln durch die Luft. »Hast du nicht davon gehört?« Sie klang alarmiert. Die satten Farben auf ihrer Stirn verzogen sich zu tiefen Furchen. »Rasmus Griffin wird für Hochvertrat gesucht. Er befindet sich auf der Flucht.«
Endu öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut, doch da war die Lehrmeisterin bereits fort.
Griffin wurde für Hochverrat gesucht? Wie konnte das sein?
Endus Herz wummerte.
»Endu?« Eine klobige Hand legte sich auf seine Schulter, dann trat Umijr Jegorow um ihn herum. Er war sein Lehrmeister, der Lehrmeister des Nordbergs. Nach acht gemeinsamen Jahren voller Geduld und Verständnis war dieser Mann wohl das, was für Endu einem Freund am nächsten kam. »Komm, ich möchte dir etwas zeigen.« Der bullige, blasse Mann zog ihn näher an den überhäuften Waffentisch heran.
Messer in verschiedenen Größen, mit gebogenen und zweischneidigen Klingen in Gold, Silber und Bronze reihten sich nebeneinander, umzingelt von unterarmlangen, altehrwürdigen Dolchen und Langschwertern mit rankenähnlichen Gravuren und verzierten Heften.
Und dann war da noch die mit Abstand eleganteste Waffe. Ein von Hand geschnitzter Recurvebogen, dessen Mittelteil aus rötlichbraunem Ebenholz gearbeitet war. Die Sehne sowie die filigranen Einzelteile schimmerten in matten Cremefarben.
»Der ist für dich«, sagte Umijr leise.
Endu nahm den Bogen ehrfürchtig entgegen. Seine Fingerkuppen erspürten das glattpolierte Holz, den grazilen Schwung und die Spannung der Sehne. Auch wenn er sich für die kriegerischen, brutalen Facetten seiner Ausbildung nie hatte begeistern können, so faszinierten ihn die prachtvollen Waffen des PAX Ordens umso mehr. Wie er sich eingestehen musste, lag dies jedoch eher an seiner Schwäche für schöne Dinge im Allgemeinen, nicht an den Waffen und deren Zweck selbst.
»Wusste ich doch, dass er dir gefällt«, sagte Umijr erfreut und legte Endu erneut eine Hand auf die Schulter.
Endu atmete den herrlich herben Geruch des Holzes ein. Das Versprechen von fremden Wäldern. »Er ist perfekt, Umijr. Danke schön. Danke vielmals!«
Damit ließ sein Lehrmeister ihn erneut zurück, mit feuchten Händen und hüpfendem Puls.
Sich räuspernd, sah Endu auf und fand sich erstmalig einer weiteren Anwärterin gegenüber, einem drahtigen Mädchen mit olivfarbenem Teint und rabenschwarzem Haar, das ihr kaum bis zu den Schultern reichte. Ihre flinken Hände gruben sich staunend durch die aufgereihten, silbernen Dolche. Dann schoss ihr Kinn nach oben und Endu war sicher, dass er noch nie in solch helle, beinahe weiße Augen geblickt hatte.
»Ich bin Endu«, sagte er und streckte ihr höflich eine Hand entgegen, die sie geflissentlich ignorierte.
Eindeutig desinteressiert an einem Gespräch mit ihm, wandte sie sich erneut den Messern zu. »Nim«, sagte sie und Endu wusste nicht recht, warum sie ihren Namen wie eine Drohung aussprach.
NACHDEM JEDER ANWÄRTER seine favorisierte Waffe erwählt hatte, reihten sie sich um ihre Lehrmeister auf. Wieder stand Endu einsam in der Menge, bis Umijr zuversichtlich nickend neben ihn trat.
Er lugte nervös an dem Mann vorbei, bemüht um einen möglichst freundlichen Ausdruck.
Nun kannte er also den Namen des dunkelhaarigen Mädchens, Nim. Blieben noch zwei weitere Jungen, die ihm fremd waren und die übrigen Mädchen aus den Blauen Bergen, die er kannte, da sie wie er aus dem III. Sektor stammten, der in ganz Møntfjort innerhalb der Gebirgskette über ein horizontales Aufzugsystem verbunden war. Somit waren die jeweiligen III. Sektoren der einzelnen Berge leicht zu erreichen; stammte man denn aus dem III. und nicht aus den niederen Sektoren, die auf dem rauen Gestein der Berge selbst lebten, statt in deren Herzen.
Seliah und Caliz hießen die beiden Mädchen aus den Blauen Bergen. Sie waren ein Paar, das sich bloß mit Blicken verständigen konnte. Seliah war sinnlich und groß, voll heller Korkenzieherlocken und verschmitzten dunklen Augen, Caliz kompakt und farblos an der Seite ihrer lauten Freundin, doch mit einer scharfen Intelligenz, die es nicht zu unterschätzen galt.
Endu hatte sie auf unzähligen Festen in den Sälen im Inneren der Berge zusammen tanzen, lachen und einander küssen sehen, und auch ihrer Prüfung schienen sie nun gemeinsam entgegenzutreten, aneinander gelehnt und die Hände eng umschlungen.
Seine Brust zog sich zusammen. Wie es den beiden ergehen würde, wenn bloß eine von ihnen erwählt werden würde? Er presste seinen Mund fest zusammen.
Doch zumindest hatten sie einander.
Eine schwere Stille legte sich über die Tribüne.
Endu befeuchtete seine Lippen und folgte dem Blick der übrigen Anwärter, hoch und höher, zu einer Gestalt, die aus dem Rundbogen, nahe der Höhlendecke, trat.
Ein breitschultriger Junge salutierte spottend, als er das Starren bemerkte, und sprang über die stufenartigen Sitzplätze auf sie zu. Walnussbraune Locken klebten an seiner Stirn und sein schiefes Lächeln nahm ihn vollkommen ein.
»Braeve!«, dröhnte Rikard Griffins dunkle Stimme den Höhlenwänden entgegen. Als ältester, erfahrenster Lehrmeister oblag ihm die Ehre, die Prüfung zu leiten, auch wenn seine Augen heute leicht gerötet und von dunklen Schatten gezeichnet waren.
Endu fragte sich, wann er von Rasmus’ Hochverrat erfahren hatte – immerhin war dieser sein Sohn.
Rikard machte einen Schritt auf den letzten Anwärter zu, die Hände fest ineinander verschlungen. »Das wurde auch Zeit.«
»Ich weiß.« Braeve reihte sich wenig reuevoll neben seiner Lehrmeisterin ein. »Aber ich musste mich erst aus einer Zelle freiquatschen. Die Vakyre haben mich für einen Fluchtversuch festgehalten. Ich nehme an, sie dachten, ich wollte über die Graue Ebene nach Truñcate fliehen.«
»Und, wolltest du fliehen?«
Hinter Rikard Griffin erhaschte Endu einen Blick auf Nim. Ihre Augen flackerten, als sie Braeves Aufmerksamkeit suchte und eine Augenbraue hob.
Braeve hielt ihrem stechenden Blick stand. »Nein, das wollte ich nicht.«
»Gut, das hätte mich auch verwundert«, sagte Ghalyela.
»Was?«, fragte Nim kaum hörbar. »Das war’s?«
Doch Endu war abgelenkt von Braeves tiefgrünem Pullover, von dem durchsickernden Blut unterhalb seiner Ellenbeuge. Also strich er sein kinnlanges Haar zurück und ging auf ihn zu. »Du blutest«, sagte er ruhig.
Braeve wirkte verwundert darüber, angesprochen zu werden. Ohne auch nur nachzusehen, winkte er ab. »Das ist schon in Ordnung.« Um seine mandelförmigen Augen bildeten sich kleine Lachfältchen. »Du bist Enduren, richtig?«
»Endu«, korrigierte er, die klammen Handflächen an seinen Hosen abstreichend. »Braeve Thomson?«
Zur Antwort erhielt er ein entwaffnendes Grinsen.
»Darf ich?« Endu deutete auf seinen Arm und wartete bis dieser mit den Schultern zuckte. Dann zupfte er vorsichtig an dem krustigen Stoff und verzog mitleidig das Gesicht. »Das sollte dringend genäht werden.«
»Das geht schon.«
Endu wich kopfschüttelnd zurück. »Bitte warte kurz.« Als er mit einem vollständigen Heilerset zurückkehrte, bedeutete er Braeve, sich zu setzen, und breitete die Hilfsmittel auf dem glatten Höhlengrund zwischen ihnen aus. »So«, sagte Endu, eine Nadel zwischen den Vorderzähnen. »Ich habe die Lehrmeister gebeten, uns drei weitere Minuten einzuräumen. Es tut mir leid, wenn ich dir wehtue.«
»Wieso sollte es? Du flickst mich schließlich wieder zusammen.«
Endu erstarrte und sah auf seine blutigen Hände. »Danke …«
»Ich danke dir«, sagte Braeve lachend.
4. Nim
»Dies sind die verbliebenen Anwärter!«, hallte die Stimme ihres Lehrmeisters, Rikard Griffin, durch den Stützpunkt.
Nim musste sich zusammenreißen, damit sie Rob keinen triumphalen Stoß verpasste. Endlich war sie hier, im Inneren des Gipfelbergs, und stand der letzten Prüfung gegenüber. Acht Jahre hatte sie darauf hingearbeitet und nun würde sie zu einer Hüterin ernannt werden. Dass Braeve den Vakyre entwischt war, würde daran nichts ändern. Das würde sie nicht zulassen. Wie es ihm gelungen war, wollte sie gar nicht wissen. Auch wusste sie nicht, ob sie wütender darüber war, dass er von ihren Lehrmeistern nicht einmal ermahnt wurde, oder dass er sie nicht verraten hatte. Was erhoffte er sich? Wollte er sie erpressen? Verto, das sollte er ruhig versuchen.
Ihnen unmittelbar gegenüber, ruhig und verloren in dieser dreckigen Tropfsteinhöhle, die so gar nicht zu seiner sauberen Kleidung zu passen schien, saß Arik Helvar, der PAX Ordensvorsitzende Møntfjorts. Er war ein kauziger junger Doktor, der die Wettkämpfe überwachte, um sein unparteiisches Votum in der Ernennung abzugeben. Aus diesem Grund hatten die Anwärter ihn bis dato auch nicht kennenlernen dürfen – auch wenn Nim es natürlich versucht hatte.
Zu ihrer Linken brüllte Rikard Griffin weiter zu den Gardisten hinauf: zu ihren zukünftigen Beschützern und Kameraden derjenigen, die nicht zu einem Hüter des Friedens ernannt werden würden. »Aus den Blauen Bergen«, verkündete er, mit einem Arm ausladend auf den truñcatischen Lehrmeister Hector Alvarez deutend. Einem Krieger, der aus Møntfjorts südlichem Nachbarland stammte, mit langem, schwarzbraunem Haar, in das Eisenketten geflochten waren. Seine Anwärter waren es, die Rikard aufrief: »Seliah Falkholm, Caliz Ekklund und Faiyaz Bukklar.«
Nim studierte ihre Mitstreiter so aufmerksam, wie es bloß inmitten des johlenden Stützpunkts möglich war.
Seliah: Lange Reichweite, doch vermutlich langsam.
Caliz: Wendig, aber ohne genügend Körperspannung.
Faiyaz: Stark, aber klein. Das Wort kantig beschrieb ihn wohl am besten, denn sein Gesicht schien bloß aus spitzen Linien zu bestehen.
Diesmal schielte Nim doch zu ihrem besten Freund hoch. An ihren Mundwinkeln zupfte ein durchtriebenes Lächeln. Diese drei würden ihnen nicht im Weg stehen.
Rob schien belustigt von Nims kalkulierter Zuversicht. In seinen dunkelbraunen Augen ruhte ein warmer, bodenständiger Schimmer.
Nim seufzte. Sein mustergültiger Anstand war manchmal beinahe ermüdend.
Nun war Rob es, der sie anstupste, gerade als Rikard den Soeddjås entgegenrief: »Vom Gipfelberg: Braeve Thomson, Roberto Armeiro und Nimblia Vindstrøm.« Rikards unverkennbarer Stolz ließ Nims Herz singen, begleitet von dem anhaltenden Stechen ihres Gewissens. Sie hatte seinen Sohn gejagt und hätte ihn ausgeliefert, und hier stand ihr Lehrmeister und strahlte unwissend durch seinen Kummer hindurch.
Ghalyela Furah, die Braeve seit sechs Jahren allein trainierte, spiegelte seine freudige Haltung bis in die Zehenspitzen wider.
Nim beugte sich an Rob vorbei und zeigte Braeve ihre Zähne.
»Und aus unserer Hauptstadt, vom Nordberg«, sagte Rikard, stockte und wandte seinen glasigen Blick von dem Tjerraner, Umijr Jegorow, und seinem Anwärter ab, als er endete: »Enduren Sunqvist.«
Nim konnte ihn förmlich »und Rasmus Griffin« hinzufügen hören.
Da trat Rob einen Schritt vor und schlang dem Mann einen Arm um die Schulter, raunte ihm etwas zu und gesellte sich zurück zu ihr.
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass wir auch für Griffin kämpfen werden.«
Richtig, dachte Nim. Griffin, der wegen Hochverrat auf der Flucht ist. Laut fragte sie: »So?«
»Mhm«, machte Rob und fuhr sich durch sein kurzrasiertes, dunkles Haar.
Scheinbar entfalteten seine Worte ihre Wirkung, denn als Rikard die übrigen Lehrmeister an seine Seite rief, war seine Stimme erneut dröhnend und klar.
Vier Lehrmeister wandten sich ihnen zu. Rikard, Hector, Umijr und Ghalyela. Sie alle hatten einst einer Generation Hüter des Friedens angehört. Aus Møntfjort, Truñcate, Tjerra und Kua Hêruvi.
Nun streckten sie ihnen einen ledernen Beutel entgegen und Rikard befahl: »Bitte zieht einen Symbolstein und ordnet euch dementsprechend an. Schwarz zu Ghalyela, Blau zu Hector.«
Misstrauisch schlängelte Nim sich an ihren Mitstreitern vorbei, ließ ihre Finger forschend durch die dumpf aufeinander fallenden, runden Holzscheiben gleiten und zog energisch eine hervor. Der blaue Aufdruck zeigte das Wappen des PAX Ordens: einen Puma mit einer Pergamentrolle im weit aufgerissenem Maul – einem Friedensvertrag, wie Nim wusste –, umringt von ineinandergreifenden Händen.
Hinter ihr stieß Rob ein enttäuschtes Schnauben aus. »Ich habe Møntfjort«, brummte er und hielt ihr die von Schneeflocken umrahmten Berge entgegen.
Nim biss die Zähne aufeinander. Was sollte das? Wofür sollten sie willkürliche Teams bilden, wenn sie doch ihr Leben lang an Robs Seite trainiert hatte?
Missmutig stiefelte sie auf den truñcatischen Lehrmeister zu, auf den muskulösen Faiyaz und auf Endu, den goldenen Bogenschützen, der Braeve zuvor unaufgefordert verarztet hatte.
Nim speicherte auch diese Information ab, ehe Rikard fortfuhr: »Ihr werdet gegeneinander antreten, jedoch nicht einzeln, sondern in Gruppen. Außerdem …« Seine grünen, intelligenten Augen huschten zu Ghalyela, die mit ernster Miene neben ihn trat. »… ist dies wohl der Augenblick, um Euch zu verkünden, dass ein Anwärter bereits zum Hüter des Friedens ernannt wurde.«
Nein. Nein. Nein. Das konnte nicht passieren.
Und als die Worte zu ihr durchdrangen, gedämpft und wie ihn Watte gehüllt – »Braeve Thomson, wir danken dir für sechs Jahre Verschwiegenheit, für deine stetig exzellenten Leistungen und heißen dich offiziell im PAX Orden willkommen!« –, explodierte etwas in Nims Inneren, während sie selbst reglos wurde.
Braeve löste sich von ihnen und sechs Augenpaare hefteten sich an seinen Hinterkopf, hasserfüllt und ehrfürchtig.
Nim hörte ihn bloß wiederholt sagen: »Spar dir den Versuch.«
Wie Recht er gehabt hatte. Sie hätte es sich sparen können, hätte ihn im Forsø ertrinken lassen können, statt ihn den verdammten Gipfelberg hinaufzuzerren, Stunde um Stunde. Denn Braeve Thomson war nie ein Mitstreiter gewesen, bereits seit sechs langen Jahren nicht.
Ihr entwich ein kurzes, bitteres Lachen.
Da ebbte der Jubel um sie herum langsam ab, das Gestampfe und Geklatsche, und mit ihm zog sich auch der Nebel aus Nims Kopf zurück. Bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte, hatte sie auch schon ihr Kinn gereckt und ließ ihre eisige Wut hervorschießen. »Wie genau funktioniert dieses Ranking denn?«, fragte sie. »Entscheidet meine Gruppe mit darüber, was aus mir wird?«
»Immer so um Gerechtigkeit besorgt«, murmelte Rob.
»Vorsicht, Nim.« Braeve klang amüsiert. »Eine scharfe Zunge gehört nicht zum Arsenal eines Botschafters.«
»Du musst es ja wissen.«
»Ruhe!«, befahl Ghalyela.
»Nein«, sagte Rikard Griffin. »Niemand nimmt Einfluss auf dein Schicksal, außer dir selbst. Wir achten auf jede Entscheidung, die ihr trefft. Auf Momente, in denen euer Können strahlt.« Seine Stimme erhob sich, wurde weich und euphorisch. »Also seid mutig und clever, arbeitet miteinander, doch scheut keine List.« Damit steuerte er auf die Tribüne zu, gefolgt von Umijr, Endus Lehrmeister.
Ghalyela verschwand in eine andere Richtung und Hector marschierte in die entgegengesetzte. Nim eilte ihm nach, von Endu und Faiyaz verfolgt, dem größten und dem kleinsten der Anwärter. Einem blassen Jungen aus dem III. und einem finster dreinblickenden aus dem I. Sektor.
KAUM WAREN SIE an der untersten Tribüne angelangt, wurde die Höhle von einem gewaltigen Zittern erschüttert. Nim wich vor dem bebenden Grund fort, bemüht nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Dann riss der glatte Boden auf, teilte sich in der Mitte und klappte in die Tiefe. Und darunter, umwoben von langen Schatten und Feuchtigkeit, kroch ein Labyrinth hervor. Ein wüster Garten aus Morast und Mauern aus Schlingpflanzen. Für einen Moment spürte Nim bloß ihr strampelndes Herz, ehe ihre Gedanken zu rasen begannen. Im Zentrum des Labyrinths befand sich eine Lichtung, über der ein Zaun aus Gitterstäben schwebte.
Ihre Augen huschten hin und her – geradeaus, links, links, links, geradeaus, rechts, links, geradeaus, …
»Eure Aufgabe besteht darin, das Zentrum zu erreichen«, sagte Hector. »Braeve wird dort positioniert. Der erste, der die Lichtung betritt, wird im Stabkampf gegen ihn antreten.« Er warf sein langes Haar zurück, begleitet vom Klimpern seiner Eisenketten. »Was danach geschieht … Nun, das werdet ihr selbst herausfinden müssen.«
»Sehr hilfreich«, stieß Nim hinter zusammengepressten Zähnen hervor, zu leise, als dass der Lehrmeister sie hören konnte. Im Grunde musste sie nicht mehr wissen. Sie würde dem Orden schon beweisen, dass es ein Fehler gewesen war, Braeve dafür auszuwählen.
»Dann reicht mir eure Arme«, forderte Hector, drei kleine Spritzen hervorziehend, »und wir können beginnen.«
Nim entblößte ihren Unterarm, ihre Venen und Narben, wandte den Kopf jedoch ab, bis die Injektion in ihr Blut drang. Sie schob ihren Ärmel herunter, ohne der Einstichstelle Beachtung zu schenken. Und als sie auf einer wackeligen Plattform in die Tiefe gelassen wurden – wobei Endu zunehmend grüner um die Nase wurde –, verwandelte sich ihre Sicht in eine Welt aus bunten Hüllen und wandelnden Emotionen. Sie nahm die Farbauren ihrer beiden Mitstreiter wahr, sah das furchtvoll-gespannte Saphirblau und das neugierige Orange, und ihr Gespür für die Gefühle, die sie umgaben, begann sich auszudehnen, wie kleine Fühler. Um sie herum erhoben sich Silhouetten aus reinem Zitronengelb – in freudiger Erwartung.
Die Plattform kam ruckelnd zum Stehen und Nim, Endu und Faiyaz versanken sogleich im schlammigen Grund. Sie waren von feuchter Finsternis umgeben, doch Nim machte nur eines unruhig und das hatte nichts mit dem Dunkel zu tun. »Was könnt ihr?«, fragte sie. »Was sind eure Gaben?«
Endu, noch immer wacklig auf den langen Beinen, flüsterte mit flackernden, graublauen Augen: »Ich kann Gedanken manipulieren.«
»Und ich Gedanken lesen.« Faiyaz hatte die Lider gesenkt.
Nim zuckte unwillkürlich zusammen. Diese Gaben waren bedeutend mächtiger als ihre eigene. Sie zwang sich erst gar nicht unbeeindruckt zu klingen. »Ich erkenne Emotionen«, teilte sie ihnen mit und ließ eine imaginäre Mauer um ihren Geist wachsen.
Endus Stimme hatte beschämt geklungen, Faiyaz’ bedauernd. Dies waren Details, die sich als wertvoll herausstellen konnten.
Zu ihrem Glück hatte sie darauf bestanden, gegen solche Gaben ausgebildet zu werden und einen Schutzmechanismus zu entwickeln, auch wenn Rikard Griffin darauf beruht hatte, dass ihre Mitbotschafter niemals in ihren Geist eindringen würden.
Für solch blindes Vertrauen war Nim nicht geschaffen.
Seit ihrem zehnten Geburtstag waren die Injektionen Teil ihres Unterrichts gewesen. Das Mittel setzte in ihren Gehirnen eine Gabe frei, die es ihnen ermöglichen sollte, auch durch Fassaden und Lügenkonstrukte zu blicken.
Zudem hatte es einige ihrer Mitstreiter in den Wahnsinn getrieben.
Unnötig zu erläutern, dass diese daraufhin disqualifiziert worden waren.
Und wenn ich ernannt werde, erinnerte Nim sich, dann wird diese Gabe für immer ein Teil von mir werden. Denn dann würde der PAX Orden sie einer Operation unterziehen, die die bloß wenige Stunden anhaltenden Injektionen überflüssig machte.
Nim kontrollierte den Sitz ihres silbernen Dolches, der PAX Waffe, die sie ausgewählt hatte, und schritt mit ihrer Gruppe auf den Eingang des Labyrinths zu. Der stinkende Schlamm schmatze unter ihren Stiefeln. In ihrer Brust tobte ihr Herz nun vollkommen unkontrolliert, wie immer, unmittelbar vor einem Rennen. Denn nichts anderes war dies: Ein Lauf, der mit einem Duell belohnt wurde.
Ein Horn ertönte, tiefer als das der Vakyre. Die Vibration drang Nim bis in die Knochen. Jegliche Gedanken verschwanden aus ihrem Kopf – und sie sprintete los.
Schlitternd bog sie um die erste Abzweigung. Geradeaus, links, links, links, geradeaus, rechts, links, geradeaus, … Hinter ihr wurde der Schlamm lauter und lauter. Doch Nim hatte sich den Weg eingeprägt und so bremste sie nicht ab, bevor sie zwischen den Hecken verschwand und ließ Endu und Faiyaz nicht vorzeitig erkennen, welchen Weg sie wählte. Sie wusste nicht, ob auch sie sich den Rhythmus der Abzweigungen eingeprägt hatten oder ob sie ihr blind folgten, vielleicht in dem Wissen, dass sie dann zumindest gemeinsam scheitern würden.
Nim jagte um die nächste Ecke. Aus den langen Schatten drang ein gutturales Knurren, das sie für einen Augenblick innehalten ließ. Zu lange. Ihre Sohle versank zu tief und die Zeit hielt den Atem an, während Nim rutschte, strauchelte und vornüberkippte.
Panisch bekam sie das Gestrüpp zu fassen, riss ihren Stiefel heraus und warf einen raschen Blick über ihre Schulter, genau in dem Moment, in dem die Hecke sie zu verschlingen begann.
Die Schlingpflanzen stießen vor, zerdrückten ihre Muskeln und Sehnen und umschlossen ihren Unterarm wie ein Folterinstrument.
Nim schrie auf. Weg, sie musste hier weg. Sie durfte ihren Vorsprung nicht verlieren und musste sich befreien, bevor das Wesen aus dem Dunkel hervorkroch. Sie bekam ihren Dolch zu fassen, hackte und schlug auf die Pflanzen ein. Hinter ihr schmatzte der Schlamm.
»Versuch es mit Sägen«, schlug Endu unerträglich liebenswert vor, obwohl Nim ihn weiterhin ignorierte. Denn so sehr sie auch gegen die Schlingpflanze ankämpfte, die Fasern hielten ihrem Zorn stand. »Nein«, verbesserte er sich nachdenklich. »Schlag ein Loch in den Mittelteil einer Schlinge.«
»Das funktioniert nicht.« Nim biss die Zähne aufeinander. Idiotin. Warum hatte sie ausgerechnet an den Hecken Schutz gesucht? Sie hätte sich einfach in den verfluchten Schlamm fallen lassen sollen.
Endu überreichte ihr einen goldenen Pfeil aus seinem Köcher, doch Nim konnte sich nicht davon abbringen, den Kopf in den Nacken zu legen und zu den Tribünen hochzublicken. Vergoldete Gegenstände waren für Bewohner des III. Sektors bestimmt, nicht für jemanden wie sie aus dem II. Sektor. Das falsche Edelmetall zu verwenden, galt als Gesetzverstoß, doch am Rand des Abgrunds nickte Rikard Griffin ihr ermutigend entgegen.
Und so rammte Nim den Pfeil in den Mittelteil der Pflanze, die darauf zischend aufschrie. Die Schlingen um ihren Unterarm zuckten wie unter Schmerzen zurück. Die Haut, die sie zurückließen, war von schleimiger Säure verbrannt und von Blasen überzogen.
Nim beugte sich zum Schlamm herab und rieb ihren Arm damit ein. Die stinkende Erde drang kühlend in ihre Poren.
»Passt auf!« Das war Faiyaz, unmittelbar hinter ihnen und krächzend wie splitterndes Eisen.
Da hörte Nim es: das leichtfüßige Staksen und das vorfreudige Klick-Klack, Klick-Klack eines aufeinanderschlagenden Gebisses.
Sie riss den Kopf hoch und ihr Atem stockte. Gelbe Krokodilsaugen blickten voller Neugierde zu ihr auf. Das Wesen war eine Ansammlung aus spitzen Reißzähnen, einem fetten, schuppigen Leib und einem peitschenden Schwanz. Flügel einer monströsen Fledermaus, geädert und von Widerhaken versehen, umhüllten das Reptil. Seine pelzigen Krallen tapsten unbeirrt durch den Morast, direkt auf sie zu.
Vielleicht, wagte Nim zu hoffen, vielleicht ist es bloß neugierig und nicht hungrig. Bitte sei nicht hungrig.
Sie betete zu den Schutzgeistern ihrer Heimat. Zu Vind, Regndrop und Åska. Zum Wind, dem Sturm und dem Donner.
Das Wesen schnappte.
Nim taumelte benommen zurück, kollidierte mit Endu und stürzte geradewegs mit ihm zu Boden. Reihenweise messerscharfer Zähne blitzten vor ihr auf. Zischend rollte sie von ihrem Mitstreiter herunter, der wie gelähmt in das Maul des Wesens starrte. »Endu«, stieß sie hervor, doch er rührte sich nicht, drang auch nicht in die Gedankenwelt des Wesens ein, um es zu stoppen.
Und da war bereits Faiyaz, der seine bronzene Kettenwaffe schleuderte. Sie schlug neben dem Wesen ein. Schlamm spritzte auf und Nim packte Endu unter den Achseln und schleifte ihn zurück. Das Wesen stieß einen angsterfüllten Schrei aus, entfaltete seine schattenhaften Flügel und ließ sich zu ihrem Entsetzten auf der Hecke unmittelbar über ihren Köpfen nieder. Die Schlingpflanzen schnurrten und liebkosten den schuppigen Leib.
Da verstand Nim. Dies war der Hüter dieses Labyrinths, den sie hervorgelockt hatte, als sie den Schlingpflanzen Schmerzen zugefügt hatte. Sie überkam ein Schauder. Alles hier schien seinen eigenen Verstand zu besitzen.
In der Ferne schrie ein Uhu, und auch dieser Ruf klang bedeutend zu menschlich. Rob. Nims Brust zog sich angsterfüllt zusammen. Wieder schrie das Nachtgeschöpf. Am entgegengesetzten Ende des Grabens mussten Rob, Caliz und Seliah einem ähnlichen Wesen ausgesetzt sein.
Blitzschnell tauschte Nim einen Blick mit Endu und Faiyaz, die das Wesen über ihnen nicht aus den Augen ließen. Es neigte den Kopf zu ihnen herunter, wie um festzustellen, ob die Gefahr vorüber war. Schließlich raschelte es mit seinen Flügeln und bereitete sich auf einen weiteren Flug vor.
Nim stürzte vor, auf Endu und seinen Bogen zu, packte und spannte ihn mit einem Pfeil. Sie hatte den Moment abgepasst und gehofft schnell genug zu sein.
Flonk. Flonk. Die zwei goldenen Pfeile bohrten sich tief in das dunkle Gewebe.
Das Wesen stürzte kreischend von der Hecke herab. Schlingpflanzen verlangsamten seinen Fall, dann schlug es platschend auf. Die Pfeile gruben sich tiefer in seine Flügel, sein dicker Schwanz peitschte in ihre Richtung und sein Gebiss schnappte und schnappte.
Jäger oder Gejagte. Hüter gegen Hüter, dachte Nim.
Ihre Finger schlossen sich um einen Messerknauf, das Wesen schnappte erneut, dann steckte eine Klinge in seinem Rachen – und das Labyrinth verfiel in die Stille ihres rasselnden Atems.
Die Soeddjås pfiffen und schrien.
Begleitet von ihrer Anerkennung, hastete Nim weiter vorwärts, an dem reglosen Wesen vorbei und tiefer in die Fänge des Irrgartens. Sie blickte kein weiteres Mal zurück. Der Morast wurde zu einem Moorland aus Sumpf und aufsteigenden Dämpfen. Irgendwann musste sie es aufgeben zu rennen, zerrte ihre Stiefel von den Füßen und konnte bloß noch mit hochgekrempelten Hosenbeinen und in großen Schritten durch den Schlick waten. Bis sie auf einen breiten Durchgang trat, hinter dem Braeve wartete – und auf der entgegengesetzten Seite Rob, ihr bester Freund.
Nim stolperte vorwärts, ihre Stiefel, die sie um den Hals trug, schlugen wild aneinander. Mehrfach fiel sie der Länge nach hin, doch das kümmerte sie nicht. Nicht jetzt, wo sie dem Ziel so nah war.
Komm schon, komm schon. Nur noch wenige Meter.
Rob war schneller, das wusste sie, aber er war auch schwerer und versank tiefer in dem sumpfigen Grund.
Nim grinste. Sie war tatsächlich dichter an der Lichtung, sie hatte es geschafft –
Der schiefgelegte Kopf eines kreischenden Uhus materialisierte sich vor ihr.
Nim wedelte unkontrolliert mit den Händen und plumpste rücklings in den Sumpf. Lange, totenbleiche Arme streckten sich ihr entgegen, sechs an der Zahl, dürr und gespenstig. Klickend schlugen die Knochen des Wesens aufeinander, ganz so, als lägen sie lose und gebrochen zwischen den dicken, grauweißen Sehnen gefangen.
Der Schnabel des Wesens öffnete sich und eine gespaltene Zunge schoss aus den Tiefen seines wuchtigen Halses –
Ein gewaltiger Einschlag brachte den Sumpf zum Beben.
Nim blinzelte. Das Wesen war verschwunden, aufgelöst in Nebel und Licht. Sie stemmte sich atemlos auf die Ellenbogen. Das Gitter, das über Braeve geschwebt hatte, war unmittelbar vor ihr heruntergestürzt. Nim fluchte, rappelte sich auf und hämmerte gegen das Metall, bis Robs Kopf zu ihr herumschnellte. Rob, der als Erster zu Braeve gelangt war.
»Bastard«, sagte sie. »Eine verdammte Illusion?«
Denn darum hatte es sich gehandelt. Kein echtes Wesen, bloß Robs Verstand, der ihren verwirrte.
»Tut mir leid, Nim.« Rob angelte nach einem der polierten, hölzernen Kampfstäbe. »Aber du hättest das Gleiche getan.«
Wenn du auch über meine Gabe verfügen würdest, vollendete Nim im Stillen.
Wahrscheinlich. Sie hätte damit rechnen müssen.
»Pass auf«, hatte Rob bereits vor Jahren zu ihr gesagt. »Wir werden uns gegenseitig helfen, solange wir können. Und wenn es darauf ankommt und nur noch wir beide da sind –«
»Dann kann ich nichts versprechen«, hatte Nim ihn unterbrochen.
Rob hatte genickt. »Verstanden.«
Doch jetzt fühlte Nim sich mit einem Mal schrecklich allein.
Rob und Braeve bauten sich einander gegenüber auf. Beide stammten sie aus dem II. Sektor, beide lebten sie auf dem Gipfelberg, der eine am West- der andere am Südhang.
Und Nim, die dritte Anwärterin von diesem Berg, war dazu verdammt, ihren Kampf zu verfolgen, ohne eingreifen zu können. Die dumpfen Schläge hallten durch die Grube und lockten auch Endu und Faiyaz, Seliah und Caliz an, die ebenso ausgesperrt zusahen, wie Braeve Rob mühelos in die Defensive zwang.
Nims Mund wurde trocken.
Rob war ein guter Kämpfer, ein ausgezeichneter, wenn sie ehrlich war. Damit, dass Braeve ihnen derartig überlegen sein würde, hatte sie nicht gerechnet.
Die Hände fest um das Gitter geschlungen, studierte Nim jeden seiner Angriffe, die Haltung des Stabs, den Winkel, in dem er schlug.
Schließlich stülpte sie erneut ihre Stiefel über – eine wahrhaftig widerliche Angelegenheit – und erklomm die Barriere, noch bevor Braeves letzter Schlag Rob den Knöchel wegriss und er von einem abscheulichen Knirschen begleitet zu Boden sank.