1. Kapitel

Wenn ich meine Gefühle auf magische Weise mit Pinsel und Farbe einfangen könnte, würde mein neustes Gouache-Bild vermutlich vor Freude weinen.

Wie ich.

Denn ich war zuhause. Nach vier langen Monaten allein im weitentfernten, riesengroßen München war ich zurück auf dieser winzig kleinen Insel inmitten der ostfriesischen Nordsee. Meiner Insel.

Nun, noch nicht ganz.

Noch stand ich auf dem Deck der Fähre, die vom Festland dorthin tuckerte, und war von Touristen umgeben, die ihre Kinder ebenso ängstlich festhielten wie die sündhaft teuren Spiegelreflexkameras, die ihnen um die Hälse baumelten. Garantiert würden sie dem Charme unseres gemächlichen Insellebens verfallen, kaum dass sie von Bord gingen. Ich für meinen Teil war jedenfalls ganz hibbelig und die Müdigkeit meiner Anreise wie verflogen. Mein Herz raste – allerdings war das wohl eher dem vielen Bahnhofskaffee verschuldet.

Möwen schrien mir zu und ich lachte zurück. Sie kreisten über der Fähre, schlugen laut mit den Flügeln und folgten stetig unserem Kurs, als hätten sie mich bereits erwartet.

Meerwasser spritzte mir ins Gesicht, rauer Wind strich mir durchs Haar und ich konnte wieder Salz auf der Zunge schmecken. Ich beugte mich weiter über die Reling. Das Wasser glich einem lebendigen Wesen, das den wolkenbehangenen Himmel darüber spiegelte. Gischt prallte gegen den grünen Schiffsbauch und auf der Insel konnte ich mein Familienhaus schon fast sehen. Ich wusste genau, wo am Horizont es in wenigen Minuten auftauchen würde.

Auf meinem Bild blitzte unser abgerundetes Reetdach samt den Störchen, die darauf lebten, bereits hinter den grasbedeckten Dünen hervor, wie eine Voraussagung. Und die Gouache-Farben, mit denen ich das Meer, die Gischt und die magischen Lichter darin gemischt hatte, vibrierten förmlich. Dieses Bild war wesentlich besser als alles, was ich in den offiziellen Zeichenstunden meines letzten Semesters produziert hatte. Weil es mein Herz spiegelte: mein Zuhause.

Ich hatte einfach darauf losgemalt, ohne aufzublicken. Mit dem Pinsel in der Hand und den flatternden Seiten auf dem Schoß. Hin und wieder war ein Tourist, der seine Seebeine noch nicht gefunden hatte, gegen mich gestolpert, aber das hatte mir nichts ausgemacht. Die Seite vor mir war mit jedem Strich blauer und grauer geworden und ich konnte aufatmen. Danach hatte ich meine Malutensilien gar nicht schnell genug in Mamas alten Wanderrucksack stopfen und auf die Reling zueilen können.

Nun schlug ich mein Skizzenheft zu. Die Seite war vom stürmischen Nordwind getrocknet worden.

Sehnsucht schnürte mir die Brust zu.

Ich wünschte, ich könnte meine Gefühle beim Malen auf magische Weise festhalten. Ich wünschte, das wäre mein Memorabilia – der Gegenstand, in dem ich meine Gefühle bündeln und sie dadurch mit anderen teilen konnte. Wie alle Frauen in meiner Familie es konnten. Dann könnte Omi endlich in Rente gehen und ich unser Familiengeschäft übernehmen und meine Bilder verkaufen.

Aber in ihnen steckte keine Magie.

In nichts, was ich produzierte, steckte Magie.

Weil ich eben nicht wusste, was mein Memorabilia war. Für Omi waren es Marmeladen, aber im Grunde war mir vollkommen egal, um welchen Gegenstand es sich bei mir handeln würde. Ich wollte mein Memorabilia nur endlich finden.

Solange ich das nicht tat, konnte ich Omi und Papa nicht entlasten. Dabei schuldete ich ihnen das. Besonders seit ich so weit weggezogen war und ihnen monatelang nicht helfen konnte.

Und nun waren Sommersemesterferien und ich kehrte nachhause zurück; wenn nicht jetzt, wann sonst sollte ich meine Magie finden?

Ich schob meinen Zeigefinger unter den Ledereinband meines Skizzenhefts und zog den zusammengefalteten Brief hervor, den Omi mir vor wenigen Wochen zugesendet hatte, da sie weder ein Handy noch einen Computer besaß. Er war mit Öl-Farben beschmiert und die verschnörkelten, in Bleistift geschriebenen Worte mitleerweile so verblasst, dass ich mich konzentrieren musste, um sie zu entziffern.

 

Nori. Alles, was du tun musst, um dein Memorabilia zu finden, ist offen und ehrlich mit deinen Gefühlen zu sein. Sei du selbst, mein Schatz, dann erscheint deine Magie von ganz allein.

 

Ich hob den Blick und starrte auf das Meer hinaus. Eine Faust schloss sich um mein Herz.

Alles, was du tun musst … Wie sie es formulierte, hörte es sich leicht an, aber ich wusste einfach nicht, wie. Wie begann man damit, seine Gefühle nach außen zu tragen, wenn man sein Leben lang das genaue Gegenteil getan hatte?

Meine kleine Schwester rannte über den Pier auf mich zu, kaum dass ich die Fähre verlassen und nachdem ich so ziemlich jedem meine Hilfe mit seinem Gepäck angeboten hatte. Als Insulanerin fühlte ich mich immer ein wenig verantwortlich für die Touristen. Eine Frau schwankte und ich streckte meinen Arm nach ihr aus. Ein Kind trat an die Kante des Piers und ich trat ihm lächelnd in den Weg.

An der Promenade wartete eines der einzigen Autos der Insel. Es würde die Touristen zu ihren Apartments bringen und die Fahrt dafür rund ein Dutzend Mal machen müssen.

Es war Ende Juli, Touristenhochsaison.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um nach meiner Schwester zu sehen. Alisas pinke Flip-Flops schlugen auf dem Holz auf wie nasse Entenfüße. Sie duckte sich zwischen den letzten Touristen hindurch und dann stand sie auch schon vor mir mit ihren viel zu langen Armen und Beinen, den Zähnen, die noch zu groß für ihren Mund und den Augen, die noch zu groß für ihr Gesicht waren.

»Nora!« Sie warf sich mir in die Arme.

»Alisa«, sagte ich erstickt. Ich kam aus einer Familie wundervoller Frauen, aber niemand war so wundervoll wie meine Schwester. Sie war elf Jahre alt, roch nach Honig und Marmelade und tanzte wie ein Vogel durchs Leben.

Ich drückte sie noch fester an mich, bevor sie sich mir protestierend entwand. »Bist du gewachsen?« Ich strich ihr über das Haar. Wenn ich nicht da war, um es zu frisieren, glich es immer einem Nest.

»Ja!« Alisa richtete sich kerzengerade auf. »Vier Zentimeter. Papa sagt, ich werde einmal größer als du.« Sie streckte mir die Zunge raus.

»Das bezweifle ich nicht.« Ich packte sie bei den Schultern und drehte sie wieder zu Papa und Omi um, die über den Steg auf uns zu kamen, wenn auch bedeutend langsamer als Alisa. Hinter ihnen färbte sich der Abendhimmel rosarot. Ich winkte ihnen zu, einen Kloß im Hals.

Omi trug noch eine orangefarbene Kochschürze, die über und über mit Obstflecken übersät war, als hätte sie ihre Küche fluchtartig verlassen, was vermutlich auch stimmte. Ich erinnerte mich nicht, sie je ohne Schürze gesehen zu haben. Aktuell war sie die älteste Frau der Honig-Stammlinie, mit mir in der Mitte und Alisa als Jüngste. Wie alle Frauen vor uns hatten wir dickes, honigblondes Haar, honigweiche Stimmen, eine Schwäche für alles Süße und eine überaus klebrige Persönlichkeit. Wir ließen andere nicht gerne gehen, selbst wenn wir sollten.

Bevor Omi mich umarmte, sah sie mir fest in die Augen. Ihre waren hellblau, meine eher grau. Sie roch genau wie meine Schwester, aber sie war weich und rund und stand gebeugt von all den Menschen, die ohne ihr Einverständnis gegangen waren. »Schätzchen«, sagte sie, ohne ihren Mund zu einem Lächeln zu bewegen.

Dafür strahlte ich umso mehr. Ich wusste, dass ihre eiserne Miene nichts mit mir zu tun hatte. »Hallo, Omi. Ich habe dich vermisst.« Ich zog meine Schwester zu mir und hielt sie fest. »Euch alle.«

Papa legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter. Ich lehnte mich in seine Berührung. Wir umarmten uns selten. Das hatten wir in meiner Kindheit zu oft getan, um einander aufrecht zu halten. Ich drehte den Kopf zu ihm um und blinzelte gegen meine Tränen an. Er tat das Gleiche. »Schön, dass du wieder zuhause bist, Nori«, sagte er, trat an mir vorbei und ging mit Omi zurück zum Anleger. Ohne, dass ich ihn darum gebeten hatte, hatte er Mamas Rucksack geschultert.

Ich eilte ihm nach. Auf keinen Fall würde ich ihn all meine Sachen tragen lassen. »Warte«, sagte ich. »Ich helfe dir!«

Unsere Häuser lagen im Westen der Insel, direkt hinter den Dünen. Als Kind hatte ich die Insel immer wie eine perfekte Mondsichel gemalt, aber in Wahrheit war sie im Osten deutlich breiter, mit Buchten, in denen sich die Seehunde wohlfühlten, und einem Zugang zum Wattenmeer. Insgesamt war sie schmal, mit ewiglangen Küsten im hügeligen Norden und dem flachen Süden. Das war der touristische Teil, mit Eiscafés und Restaurants wie der Pizzeria Daidone, der Schule und dem Kindergarten, Ferien-Apartments und dem weißgetünchten Leuchtturm, der auf allen Postkarten abgebildet war. Wir Insulaner mieden die Strände im Süden und die Touristen mieden unsere im Westen und Osten, die hinter falschen Naturschutzschildern verborgen waren. Im Norden lagen der Erdbeerhof, der Friedhof und ein zweiter, kleinerer Leuchtturm, ganz in Gelb. Im Osten, oberhalb der Buchten und des Watts, lag Oskars Bienenfarm. Von dort stammte meine Familie ursprünglich. Aber das war lange her.

In der Mitte der Insel lebten die meisten von uns. Häuser mit dunklen Reetdächern und rotbraunen Ziegelsteinen standen grüppchenweise beisammen und waren durch Trampelpfade miteinander verbunden, die man am besten zu Fuß bestritt.

Meine Familie war allerdings auf Fahrrädern gekommen und ich freute mich wahnsinnig, dass sie meins mitgebracht hatten. In der Münchner Innenstadt Fahrrad zu fahren war einfach nicht das Gleiche wie hier. Dort konnte ich meine Umgebung – besonders all die prunkvollen Bauwerke – gar nicht richtig wertschätzen, wenn ich nicht von der nächsten Straßenbahn, dem nächsten Auto- oder Motorradfahrer mitgerissen werden wollte.

Hier war das anders: Ich kannte die Straße blind, jeden Hubbel und jede Kurve. Sie führte erst lange die Promenade entlang, ehe sie rechts ins Inland abbog und sich zwischen den Hügeln und Dünen hinauf in unsere Wohngegend schlängelte.  

Meine Schwester raste voraus. Sie stand in den Pedalen ihres knallpinken Fahrrads und schwankte gefährlich bei jedem Tritt, was mich nervös machte, auch wenn ich wusste, dass sie nicht fallen würde. Sie fuhr diese Strecke jeden Tag zur Schule.

Papa hatte seine Brille in die Haare geschoben und die unteren Knöpfe seines Hemds aufgemacht, damit es nicht zerknitterte. Er stammte nicht von hier und das merkte man. Selbst an der Art, wie er auf seinem Fahrrad saß. Neben ihm radelte Omi wie eine Königin. Ihre Schürze schlackerte im Wind.

Ich ließ mich zurückfallen. Über zehn Stunden war ich unterwegs gewesen, doch jetzt war ich hier – und die Möwen folgten mir noch immer.

Unsere Straße bestand aus drei Häusern. Dem, in dem ich mit Alisa und Papa wohnte, der Töpferei Fingerhut und Omis Haus mit dem Marmeladenhaus im Erdgeschoss. Es lag dreiunddreißig Schritte weiter nördlich, genau wie ihr Aprikosengarten, der zwar so hieß, aber eigentlich auch Apfel-, Birnen-, Mirabellen- und Pflaumenbäume beherbergte, und so groß und dichtbewachsen war, dass man sich darin verirren konnte. Und das selbst im tiefsten Winter, denn er blühte auf wundersame Weise rund ums Jahr.

Ich hob mein Gesicht dem Meereswind entgegen.

Das alles – nach Hause zu kommen, von meiner Familie abgeholt zu werden, wieder hier zu sein – fühlte sich seltsam an. Als wäre ich nie fortgewesen oder hätte kurzzeitig ein anderes Leben geführt. Vertraut und fremd zugleich. Ich konnte meinen Alltag in München und das Studium dort einfach nicht mit der Insel zusammenbringen. Mit meiner Heimat, dem Ort, der mich geformt hatte.

Als ich mich von meinem Fahrrad schwang, landeten die Möwen im Sturzflug um mich herum. Sie schrien und schrien, doch es klang nicht sarkastisch oder spottend, wie ich es von ihnen gewohnt war. Vielmehr kam es einer Aufforderung gleich. Ich lachte mit ihnen. In den Dünen stimmten die Grillen zu einem Lied an, die Störche auf unserem Dach klapperten aufgeregt mit den Schnäbeln – und dann begann mein Zuhause all seine bemalten Fenster und Türen zu öffnen und schließen, wieder und wieder, sodass es nur so schepperte und krachte.

Ich stürmte hinein, sog den vertrauten Duft nach Honig, Blumen, Früchten und Zucker, Ton und Rauch in mir auf und berührte alles, was die Frauen vorheriger Generationen mit ihren Gefühlen und Erinnerungen beseelt hatten.  

Unser Haus war ein gigantisches Memorabilia: es erinnerte sich an alles, was den Honig-Frauen unter seinem Dach widerfahren war, und reagierte auf all unsere Gefühle. Es ließ sich nicht beruhigen.

Es sagte: »Hallo!«

2. Kapitel

 

Die Hintertür zur Pizzeria Daidone war nie verriegelt. Es war der Eingang, den die Lieferanten und Angestellten benutzten, da er unmittelbar in die Küche führte. Genau dorthin wollte ich. Wir hatten nach 21:00 Uhr und die Terrasse mit dem offiziellen Eingang war überfüllt mit Touristen, die ein Glas Wein nach dem nächsten genossen. Vittoria und Giulia hatte ich nicht gesehen, was hieß, dass sie sich in der Küche verkrochen haben mussten. Vittoria arbeitete ohnehin dort und Giulia war zwar eine Kellnerin, aber keine besonders motivierte.

Nachdem unser Zuhause sich wieder beruhigt und Papa, Alisa, Omi und ich gemeinsam zu Abend gegessen hatten, hatte ich mich sofort auf mein Fahrrad gesetzt und war den steilen Pfad zur Promenade hinabgefahren. Diesmal begleitete mich kein Schwarm Möwen, bloß eine.

Peter, die sarkastische Möwe, die unsere Familie seit Genrationen bewachte.

Zumindest glaubten wir, dass es seit jeher die Gleiche war. Natürlich konnten wir uns irren, aber das war unwahrscheinlich.

Ich lehnte mein Fahrrad, das über und über mit Alisas glitzernden Magazinstickern beklebt war, an die Wand neben den Mülleimern und drückte die Klinke der Hintertür herunter.

Sie war offen.

Zufrieden schob ich mich in die Küche.

Aus einem CD-Spieler, der auf einem hohen Vorratsschrank stand, erklang amerikanischer Rapp, was meinen Gang sofort beflügelte. Daneben häuften sich bergeweise CDs, die meisten von ihnen selbstgebrannt.

Mir wallte der herrliche Duft von warmem Teig, Pasta und Käse entgegen. Die Arbeitsflächen waren mit Mehl bestäubt, zerhackte Kräuter, die es nicht in Soßen oder auf Pizzen geschafft hatten, zeichneten grüne Spuren auf den Fliesen, und in den Steinöfen glühte es noch. Die Hitze strömte schwallartig in den Raum. Ein Ventilator kämpfte vergebens gegen sie an.

Doch die Küche war leer, von Vittoria und Giulia keine Spur.

Nun, fast leer. Ein Kellner tauchte gerade aus dem Kühlraum auf, rückwärts und mit gestressten, abgehackten Bewegungen. Er stieß die Tür mit der Schulter zu und wirbelte herum. In den Händen hielt er drei Flaschen Wein. Als er mich sah, verengten sich seine Augen.

»Kannst du nicht den Haupteingang benutzen …«, sagte er und marschierte geradewegs an mir vorbei, »… wie jeder andere auch?«

Seine Wangen glühten. Er war ungefähr so groß wie ich und auch gleichalt, aber jetzt richtete er sich so gerade auf, dass er mich um ein oder zwei Zentimeter überragte.

Ich malte ein Herz in das Mehl auf der Arbeitsplatte und lächelte den Kellner an. Von seiner Laune ließ ich mich nicht irritieren. Dafür kannte ich ihn schon zu lange und zu gut. »Hey, Nils.«

Nils verzog das Gesicht. Wenn er es zu verhindern wusste, sprach er meinen Namen nicht aus. Keinen Namen eines Mitglieds meiner Familie, um genau zu sein. Vittoria zog ihn immer damit auf, dass er eine Heidenangst haben musste, den Teufel heraufzubeschwören, wenn er Nora sagte, schließlich sei ich mit ihm im Bunde.

»Nora! Nora! Nora!«, rief sie dann, wenn er mich mal wieder nicht grüßte, und hüpfte so wild um ihn herum, als befände sie sich inmitten eines Exorzismus.

Das tat sie seit der Grundschule.    

Ich war nicht sicher, ob Nils ernsthaft an den Teufel glaubte, oder daran, dass ich mit ihm im Bunde war. Aber ich wusste, dass er – vor allem aber sein Vater Gert Hohmann – uns für Hexen hielt. Meine Omi, meine Schwester und mich. Das hatte er mir schon mehrfach ins Gesicht gesagt. Oder geschrien. Zu sagen, dass seine Familie meine Familie nicht mochte, war also eine Untertreibung.

Den Hohmanns gehörte der Erdbeerhof. Sie verdienten ihr Geld damit, Touristen im Sommer Erdbeeren pflücken zu lassen und ihnen im Frühling, Herbst und Winter Marmeladen und Gemüse zu verkaufen. Doch wo Farmen wie ihre auf anderen ostfriesischen Nordseeinseln florierten, blieb der Erfolg der Familie Hohmann aus, weil sie in Konkurrenz zu meiner Omi standen, die ebenfalls Marmeladen verkaufte – nur eben keine gewöhnlichen.

Ich konnte Nils und seinen Vater verstehen.

Sie taten mir leid.

Das war auch der Grund, aus dem ich mir angewöhnt hatte, sein Verhalten zu ignorieren. Ich verstand, wie es sich anfühlte, mit den Frauen meiner Familie mithalten zu wollen. Wenn er mich wirklich verletzen wollte, was selten vorkam, sagte er etwas über Omi, Alisa oder gar Mama. Er wusste, dass ich ihm das nicht durchgehen ließ.

Aber sein Verhalten jetzt? Das war harmlos. Das machte mir nichts.

Wir waren zusammen aufgewachsen, ob wir es gewollt hatten oder nicht. Wir hatten den gleichen Kindergarten und die gleiche Schule besucht, mit je nur zehn Kindern durchschnittlich pro Jahrgang, und für die Oberstufe war er mit mir und Vittoria unter den insgesamt acht Schülern gewesen, die täglich, bei Sonne, Sturm und Schnee, mit der Fähre ans Festland gependelt waren. Auf dieser Schule, die so groß und fremd für uns Insulaner war, hatten wir aufeinander aufgepasst.

Ich kannte Nils und er kannte mich.

Ich war dabei gewesen, als er sich im Kindergarten jedes Mal in die Hand geschnitten hatte, wenn wir gebastelt hatten. Er war dabei gewesen, als ich im Matheunterricht wiederholt bloßgestellt wurde. Ich war dabei gewesen, als Vittoria Liebesbriefe von ihm erhalten hatte. Er war dabei gewesen, als mein erster Freund mir das Herz gebrochen hatte. Und wir hatten so ziemlich alle Erfahrungen gemeinsam gemacht: Flaschendrehen, Alkohol trinken, Rauchen …

Daher wusste ich auch, dass der tiefreichende Hass seines Vaters eine zweite Persönlichkeit in ihm angenommen   hatte.    

»Alles Neid und Missgunst, Nori«, hatte Opi zu sagen gepflegt. Wie ich hatte er die Familie des Erdbeerhofs einfach angelächelt, wann immer sie sich garstig verhalten hatten.

Himmel, ich vermisste ihn.

Nils strich sich sein geschwitztes, hellrotes Haar aus der Stirn. »Sie sind im Gemüsegarten«, sagte er, riss mich damit aus den Gedanken und rümpfte die Nase. »Vielleicht wärst du so gütig, Guilia daran zu erinnern, dass sie am Arbeiten ist. Auch wenn sie zur Familie Daidone gehört; da draußen ist die Hölle los.«

Ich nickte, auch wenn ich wusste, dass Giulia das egal sein würde.

Ja, mache ich, wollte ich ihm antworten, doch da war Nils schon verschwunden.

 

Im Garten roch es herrlich nach Erde und Gemüse.

Die Daidones waren stolz darauf, alles, was auf die Teller ihrer Gäste kam, selbst herzustellen, von dem Mehl über die Tomatensoße. Sogar einen Hühnerstall besaßen sie. Im Halbdunkel des Abends hockten die rund zwanzig Hühner – und der eine Hahn: der Wecker der Insel – mit aufgeplustertem Gefieder beisammen und glucksten leise. Das Gelächter und die angeregten Stimmen der Touristen wurden von dem Wind davongetragen. Nur die Grillen musizierten beständig weiter.

Ich versuchte, die Hühner nicht aufzuschrecken und tapste auf dem schmalen Weg zwischen Beeten mit Radieschen, Salatköpfen und Mohrrüben in den Teil des Gartens, der im Verborgenen lag.

Da hörte ich meine Freundinnen lachen.

Es kam aus dem Gewächshaus.

Der Klang war so vertraut, dass es mir einen Stich versetzte. Aber anstatt loszurennen, blieb ich ruckartig stehen.

Mein Herz schlug mit einem Mal viel zu schnell.

Wochenlang hatte ich mich darauf gefreut, sie wiederzusehen, aber jetzt … jetzt war mir nur noch schlecht.

Ich wollte Omis Rat befolgen und offen und ehrlich sein, was meine Gefühle betraf.

Das wollte ich wirklich.

Wenn ich nur so mein Memorabilia finden konnte, blieb mir wohl kaum eine andere Wahl. Es würde allen besser gehen, sobald ich Omi in unserem Familiengeschäft ablösen und Papa mehr unter die Arme greifen konnte. Das wusste ich. Daher wollte ich es versuchen.

Wäre da nur nicht die Sache mit Guilia …

Ich griff mir an die Kehle.

Ich wollte – nein, ich würde – ehrlich sein, aber nicht, wenn das meine Freundschaft zu ihr und Vittoria ruinieren würde.

»Nora?«, rief eine hohe, durch und durch fröhliche Stimme aus dem Gewächshaus. »Bist du das?«

Es war Vittoria.

Bevor ich antworten konnte, fügte eine zweite, wesentlich tiefere Stimme hinzu: »Was machst du zwischen den Salatköpfen? Komm her zu uns!«

Und das war Guilia.

Sie mussten mich bereits durch die milchigen Scheiben der Stahlkonstruktion sehen können.

Ich gab mir einen Ruck und eilte die letzten Schritte auf das grüne Gewächshaus zu. Vittoria stand vor den Kirschtomatenranken und hielt einen Korb in den Händen. Guilia saß im Schneidersitz auf einem der Werktische, drehte eine Gartenschere zwischen den Fingern und hielt einen Stapel Deutsch-Vokabelkarten in der anderen Hand. Dabei war ihr Deutsch mitleerweile nahezu perfekt. 

Es war unverkennbar, dass die beiden verwandt waren.

Cousinen, um genau zu sein.

Beide hatten dichte Augenbrauen, lange Nasen und den gleichen, warmen Hautton. Im Gegensatz zu Guilia, der es durch ihre schwarz-weiße Arbeitskleidung völlig an Farbe fehlte, glich Vittoria einer Studie in Pastell. Sowohl ihr kurzes T-Shirt als auch ihre tiefsitzende Jeans waren entweder Hellrosa, Himmelblau oder Flieder. Wo sie lebhaft, weich und rundlich war, war Guilia tiefenentspannt, groß und schlank. Sie trug eine Ansammlung an silbernen Ketten und Ohrringen und hatte sich ihre vordere Haarpartie blond gefärbt. Seit ich sie zuletzt gesehen hatte, waren ihre sonst dunklen Haare noch länger geworden und reichten ihr jetzt bis zur Taille.

Ich trat über die Schwelle.

Guilia hob den Blick, ihre haselnussbraunen Augen blitzten auf – und mein Herz machte einen Satz.  

Da stürmte Vittoria auch schon auf mich zu und zerquetschte mich in ihren Armen. »Wie war die Fahrt?«, fragte sie und wiegte mich hin und her. Sie roch nach sonnengetränkten Tomaten, Sträuchern und Mehl. Niemand war so perfekt zu umarmen wie sie, dabei umarmte ich so ziemlich jeden gerne und das oft. Aber Vittoria und ich waren exakt gleichgroß. Das liebte ich. Bevor ich antworten konnte, schnappte sie hörbar nach Luft, als hätte ich sie zerquetscht und nicht umgekehrt. Sie ließ mich schlagartig los. »Ich habe dir einen Musik-Mix gemacht«, sagte sie. »Erinnere mich daran, ihn dir zu geben. Du wirst ihn lieben!«

»Lieben«, kommentierte Giulia sarkastisch.

Ich verkniff mir ein Lachen. »Ich weiß, dass ich das werde«, sagte ich. »Und die Fahrt war lang, aber in Ordnung. Ich hatte hauptsächlich Fensterplätze.«

Vittoria nickte. »Wie lange bleibst du?«

»Ich bin noch nicht sicher.« Ich hievte mich neben Giulia auf die Werkbank. Sie lehnte sich an mich wie eine Katze und sofort begann mein Körper zu kribbeln. Ich gab mir Mühe, mich nicht zu versteifen und atmete tief durch die Nase ein, was nicht half, da ich so ihren Duft nach Espresso und Amaretti aufsog. Ich dachte laut nach, um mich davon abzulenken: »Die Touristensaison geht bis Ende August, also bleibe ich auf jeden Fall bis dahin. Omis Rücken ist zurzeit nicht der Beste, deshalb wollte ich das Obstpflücken und -schneiden für sie übernehmen und ihr im Verkauf helfen. Papa könnte wesentlich mehr Umsatz machen, wenn ich das Bemalen der Vasen übernehmen könnte, und für Alisa beginnt in wenigen Wochen wieder die Schule, deshalb wollte ich sichergehen, dass sie gut in die Routine findet und ihre Brote machen, damit Papa das nicht muss. Guilia, wolltest du nicht meine Meinung zu einem gecodeten … Programm? Und Vittoria, du wolltest mir noch deine Hausarbeit zum Korrekturlesen schicken. Wir wollten doch nach Recherche für eine deiner Essay-Abgaben suchen, oder nicht? Wenn du möchtest –«    

»Meinst du nicht, das ist ein bisschen viel?«, schnitt Vittoria mir das Wort ab. »Niemand verlangt das alles von dir, Nori. Wie lange willst du denn bleiben – unabhängig von all dem? Mir brauchst du jedenfalls nicht auch noch helfen. Ich schicke dir garantiert nichts zum Korrekturlesen.«

Giulia hob vielsagend die Augenbrauen. »Du hast Ferien.«

Meine Brust wurde eng. Ich wusste, dass sie es gut meinten, aber sie verstanden es nicht. Sie waren das ganze Jahr über hier und arbeiteten für ihre Familie. »Ich kann von München aus schon nichts tun. Und ich helfe ja gerne.«

»Das ist das Problem«, sagte Vittoria. »Aber uns allen zu helfen ist nichts, was du zu deinem alleinigen Lebensinhalt machen solltest. Wir freuen uns auch so darüber, dass du wieder hier bist. Du musst uns nichts beweisen. Wir lieben dich auch so.«

Guilia lächelte schief. »Tun wir.«

Ich schluckte. Ich wollte nicht mit ihnen streiten, wo ich gerade erst angekommen war. Aber ich konnte ihnen auch nicht zustimmen. Ich wusste, wie viel Omi und Papa zu tun hatten, besonders jetzt in der Hochsaison, und außer mir hatten sie niemanden, der sie entlasten konnte.

»Ich muss nur ein paar kleinere Aufgaben für die Uni erledigen, solange ich hier bin«, sagte ich, damit sie es gut sein ließen. Das war eine Untertreibung. Die Abgabefrist meiner Aufgaben war in zehn Tagen und bis dahin musste ich noch so viel abarbeiten, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Zumal es nicht einmal Aufgaben waren, auf die ich mich freute.

»Zeichnen am Meer so wie früher also.« Vittoria stellte den Korb mit Tomaten ab. Sie lächelte wieder, was mich erleichterte. »Es könnte schlimmer sein, nicht?«

»Bedeutend schlimmer«, sagte ich und meinte es so. Auch wenn ich keinen Spaß haben würde, wie sie annahm. Aber damit musste ich sie nicht belasten. Das war mein Problem. Noch dazu ein albernes.

»Außerdem hast du jetzt unsere Gesellschaft zurück.« Mit einem hüpfenden Schritt kam Vittoria auf uns zu und boxte in die Luft. »Ha! Nimm das, München.«

Ich lachte und zog sie zu mir. »Dein Musik-Mix, den ich so lieben werde, kann ich ihn zum Malen hören?«

»Ich hatte ihn eher zum Tanzen angedacht.« Vittoria drehte sich zu ihrer Cousine um. »Sieht sie nicht aus, als hätte sie seit Ewigkeiten nicht mehr richtig getanzt, Giulia?«

»Total.«

Wie Guilia es sagte, todernst, aber mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen; so hatte ich sie vor Augen, wann immer ich an sie dachte.

Mir rauschte das Blut in den Ohren.

Was ich aber natürlich nicht tat. Nicht mehr. Oder? Zumindest nicht häufiger als an Vittoria … und auf die gleiche Weise.

Nicht so. Nicht anders.

In mir schnürte sich alles zusammen. Ich liebte Vittoria und Guilia über alles. Ich liebte sie und ich wollte sie gleich lieben. Freundschaftlich. Nur freundschaftlich. Nicht so.

Ich schüttelte den Kopf, um meine Panik zu vertreiben. »Wie geht es euch denn eigentlich?«, fragte ich. »Wie fühlt ihr euch?«

Guilia seufzte dramatisch. »Gestresst.«

»Lass mich raten: Nils?«

»Dieser Junge …« Sie fuchtelte mit ihren Karteikarten in der Luft herum. »Wie kann ein Mensch so viel schreien? Noch dazu ein Deutscher? In Sizilien wurde mir immer erzählt, ihr Deutschen aus dem Norden hättet ein ruhiges Gemüt. Was ein Bullshit.«

Sie sagte es wie: Bullshit-e. Das war ziemlich süß.

Ich versteifte mich. War das ein freundschaftlicher Gedanke?

Vittoria verdrehte die Augen. »Um fair zu sein, Guilia, du lässt ihn so ziemlich alles allein machen.«

Das konnte ich mir gut vorstellen.

»Mama ist das auch schon aufgefallen«, ergänzte sie. Ihrer Mutter, Anna, gehörte die Pizzeria Daidone.

Wieder hob Guilia die Brauen. »Und?«

»Ich meine ja nur«, sagte Vittoria. »Deinem Trinkgeld würde es sicher auch nicht schaden, mehr zu tun.«

»Ich finde, ich tue genug.« Guilia pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Außerdem bin ich nett zu den Touristen, auf die es ankommt. Die, die nach dem … Moment, ich suche ein Wort … ah, genau, nach dem erlesensten Wein und der Empfehlung des Tages fragen. Ganz einfach. Warum sollte ich Energie auf Geizhalse verschwenden?«

Vittoria und ich wechselten einen Blick, dann prusteten wir los.

»Was ist mit dir?«, fragte ich sie.

Ein verlegenes Schulterzucken. »Ich habe momentan einen Schnitt von 1,3.«

»Was? Oh mein Gott!« Ich konnte nicht glauben, dass sie darüber die Schulter gezuckt hatte, als sei das nichts. Also doch, natürlich konnte ich das glauben, ich kannte sie schließlich schon mein ganzes Leben. »Wie toll!«

Anders als ich hatte Vittoria entschieden, nach dem Abitur auf der Insel zu bleiben, um eine Ausbildung als Köchin in dem Restaurant ihrer Mutter zu machen und nebenbei – zusätzlich sollte ich sagen – an einer Fernhochschule Management zu studieren. Sie träumte davon, die Pizzeria Daidone zu übernehmen und sie zu einem Hotel auszubauen, und sprudelte nur so vor Ideen, wie sie dieses oder jenes ändern würde.

»Streber«, kommentierte Giulia, doch es klang liebevoll.

Vittoria schnipste ihr gegen das Knie. »Sagst du.«

Sie hatte recht: Guilia lernte selbst jetzt, so spät nach der Arbeit, noch deutsche Vokabeln. Nun ja, strenggenommen sollte sie gerade noch arbeiten, aber das war nicht der Punkt.

Sie wollte irgendetwas mit Computern in Berlin studieren und sparte dafür jeden Cent, den sie verdiente. Mit achtzehn, vor beinahe zwei Jahren, war sie von Marsala – einer Hafenstadt im Westen von Sizilien – hierher zu ihrer Tante gezogen und seither war kein Tag vergangen, an dem sie ihrem Traum nicht auf die ein oder andere Weise hinterherjagte.

Ich biss mir auf die Lippe. Stolz und eine andere Emotion, die ich nicht zu genau hinterfragen wollte, wallten in meiner Brust auf.

Giulia legte den Kopf schief. »Wie sagt man: Wer im Glashaus sitzt, darf mit Steinen werfen?«

Sie fragte es ganz ernst, ganz unschuldig.

Vittoria und ich tauschten erneut einen Blick – diesmal brüllten wir los vor Lachen.

»Nein!«, sagte Vittoria. »Nein, das sagt man nicht.«

Guilia öffnete und schloss den Mund, lachte schließlich aber bloß mit. »Aber ihr wisst, wie ich es meine.«

»Klar, Cousine.« Vittoria warf eine Tomate nach ihr.

Ich lachte nur noch heftiger. Himmel, hatte ich das hier vermisst.

»Nora?« Vittoria streckte mir eine Hand entgegen, Tränen rannen ihr die Wangen hinab, doch sie wischte sie nicht fort. »Magst du mir dein Skizzenheft geben?«

Ich zog es aus meiner Tasche und reichte es ihr. Darin hielt ich hauptsächlich kleine Ausschnitte der Natur fest, studierte Farben und Licht, oder portraitierte Personen, die mich inspirierten.

Als ich das letzte Mal aus München zurückgekommen war, hatte Vittoria mich das Gleiche gefragt. Sie wollte Teil daran haben, was ich ohne sie erlebt hatte.

Und während sie sich Zeichnung für Zeichnung anguckte, Fragen stellte und schlichtweg alles kommentierte, sank ich weiter gegen Guilia, spürte ihren Herzschlag auf meiner Haut, sog ihren Espresso-Amaretti Duft ein, schloss die Augen und stellte mich nun doch der Wahrheit.

Die Monate fort hatten nichts verändert.

Das sehnsüchtige Ziehen in meiner Brust, das ich spürte, sobald ich Guilia Daidone nahe war, war nicht verschwunden.

Und ich musste mich dem stellen. Ein für alle Mal.

3. Kapitel

 

Der Mond stand hoch und voll am Himmel, als ich nach Hause kam. Drinnen war alles dunkel, bloß im Wohnzimmer flackerte ein Licht. Wie ich Papa kannte, hatte er es brennen lassen, damit ich auf dem Weg in mein Zimmer nicht stolperte.

Aber ich wollte mich noch nicht schlafen legen. Dazu war ich viel zu durcheinander. Also stellte ich mein Fahrrad ab, eilte über den Steinpfad hinter das Haus und rannte los, über die Dünen, hoch und runter, den Strand entlang, bis mir das Meer die Füße küsste.

Wie ein schwarzer Rochen lag es vor mir, rauschte und tobte. Der Wind war in den letzten Stunden stärker geworden und so türmten sich die Wellen geradezu auf. Wenn sie brachen, spritzte die Gischt mir bis ins Gesicht.

Es herrschte Flut.

Ich machte einen Schritt von dem Schaum fort, um meine Flip-Flops auszutreten und mir mein Kleid über den Kopf zu ziehen. Dann brachte ich Schuhe, Kleider – und am wichtigsten: die Tasche mit meinem Skizzenheft – hoch an die Dünen, drehte mich um und rannte ins Meer.

Sofort schluckte ich eine Ladung Salzwasser. Es war Sommer, trotzdem war das Wasser eiskalt. Aber das störte mich nicht. Ich war in diesem Meer großgeworden. Die Kälte gehörte für mich dazu und sie klärte mir den Kopf.

Und das war genau, was ich wollte.

Ich hielt die Luft an, ließ mich nach unten sinken und grub meine Zehen in den matschigen Sand. Wellen brachen über meinem Kopf zusammen, alles war schwarz und orientierungslos. Ich konnte nur das Rauschen des Wassers in meinen Ohren hören.

Das Meer zog an mir – ich ließ es. Erst als der Druck in meiner Brust unerträglich anschwoll, schoss ich an die Oberfläche. Fröstelnd strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und blinzelte gegen das Salz in meinen Augen an. Da schob sich der Mond zwischen den Wolken hindurch und zeichnete eine silberne Spur auf die Wellen, die direkt zu mir führte. Ich fuhr über die Stellen. Am liebsten hätte ich dieses glitzernde Farben- und Lichtspiel absorbiert, um es später genauso malen zu können.

Es sah wunderschön aus, beinahe magisch.

Dadurch verstärkte sich der Kloß in meinem Hals allerdings bloß noch mehr.  

Die Sache mit Guilia war die: Vor zwei Jahren war sie als »die Neue« an einen Ort gekommen, an dem jeder jeden kannte, und das auf eine furchtbar klaustrophobische Weise.

Ich liebte meine Insel und unsere kleine Gemeinde. Das tat ich. Selbst Nils wusste ich auf eine verdrehte Weise zu schätzen, aber … jede Familie hatte ihre Rolle, jeder Streit wurde über Generationen weitergeführt und niemand durfte sich ändern. So war es hier. Jeder mischte sich ungefragt in das Leben des anderen ein, ohne überhaupt etwas über dessen Gefühle oder Gedanken zu wissen. Eben weil alles auf einem oberflächlichen Kennen stagnierte.

Ich ließ mich auf dem Rücken treiben, legte den Kopf in den Nacken und wurde von den Wellen mitgerissen.

Guilia war anders.

Sie wusste genau, wer sie war und was sie wollte – und das zeigte sie ganz offen nach außen.

Das hatte ich, bis ich sie kennenlernte, noch nie erlebt.

Wer hier großwurde hatte im Grunde genommen drei Optionen: Nie fortzugehen und das weiterzuführen, womit schon Generationen zuvor Geld verdient hatten; für eine Ausbildung oder ein Studium fortzugehen und nie mehr zurückzukommen; oder, wie in meinem Fall, für eine Ausbildung oder ein Studium fortzugehen, wohl wissend das das, was man in dieser anderen Stadt tat, nirgends hinführte, da man ohnehin zurückkehren würde.

Ich holte tief Luft und sank erneut, tiefer und tiefer, Füße und Knie im herumwirbelnden Sand. Ich war völlig schwerelos, hörte nur den Atem des Meeres und den Strom meiner Gedanken.

Was andere von ihr hielten, war Guilia vollkommen egal. Eben weil sie nicht von hier stammte und die Insulaner nicht ihre ganze Welt waren. Sie liebte alles, was mit Computern, Coding und Videospielen zu tun hatte, was ich zwar nicht verstand, deshalb aber umso beeindruckender fand. Um sich ihren Traum zu verwirklichen, war sie von allem, was sie kannte, fortgegangen und nach Deutschland gezogen.

Und weil Vittoria Vittoria war, hatte sie ihre Cousine von diesem ersten Tag an zu unseren Verabredungen mitgeschleppt.

Guilia und ich hatten uns direkt verstanden. Bis spät in die Nacht hatten wir in den ersten Wochen und Monaten zu zweit zusammengesessen, uns ausgetauscht und über unser Leben philosophiert.

Und ich –

Ich stieß mich vom Boden ab.

Als ich auftauchte, landete Peter, die sarkastische Möwe, neben mir im Wasser, schaukelte hoch und runter auf den Wellen und warf mir einen langen, vielsagenden Blick zu.

»Ja, ich weiß …«, sagte ich.

Da flog er mit einem anklagenden Schrei davon.

Der Wind fuhr mit eisigen Fingern durch mein Haar und über mein Gesicht. Und ich holte einmal mehr tief Luft und tauchte ab. Diesmal schwamm ich, weiter und weiter, bis der Boden langsam unter mir verschwand.

Ich hatte mich so schleichend in Guilia verliebt, dass ich es lange überhaupt nicht erkannt hatte. Das hieß, bis ich mich so oft gefragt hatte, ob ich vielleicht in sie verliebt war, dass ich es mir eingestehen musste. Denn wenn ich nicht in sie verliebt gewesen wäre, hätte ich mir diese Frage erst gar nicht gestellt, oder? Dann hätte es keinen Grund gegeben, um meine Gefühle zu hinterfragen, oder?

Das Ganze war ziemlich verwirrend. Ich hatte mich schon ziemlich oft verliebt, aber noch nie in ein Mädchen.

Was machte das aus mir?

Ich wusste es nicht.

Und ich konnte es niemandem erzählen. Für Vittoria wäre es eine Bürde geworden. Es wäre unfair von mir gewesen, es ihr zu sagen. Und Guilia … zwischen uns hätte es alles komisch gemacht. Zumal aus meinen Gefühlen niemals etwas hätte werden können, weil sie zurzeit keinerlei Interesse an einer Beziehung oder dergleichen hatte. Nicht nur mit mir, sondern im Allgemeinen. Das hatte sie mir gegenüber oft genug gesagt. Sie wollte sich zu 100 Prozent auf sich selbst und ihren Traum konzentrieren und das wollte ich respektieren.

Außerdem wusste ich ja nicht einmal, ob ich so Etwas überhaupt wollte. Eine Beziehung mit ihr, Küsse von ihr, …  

Ein helles Licht trieb mich dazu, wieder aufzutauchen. Algengeruch strömte in meine Nase. Ich öffnete die Augen – und war umgeben von leuchtenden Quallen. Friedlich trieben sie um mich, in einem Kreis, der größer und größer zu werden schien. Sie mussten meine Traurigkeit gespürt haben und aus den Tiefen des Meeres aufgetaucht sein, um mir Gesellschaft zu leisten. Damit ich mich weniger einsam fühlte.

»Was soll ich nur machen?«, fragte ich sie, meine mystischen Beschützer, diese uralten Wesen. Denn ich wusste es nicht. Ich wusste es wirklich nicht.

Ich wollte nicht, dass sich etwas zwischen mir, Vittoria und Guilia veränderte, aber das würde es, wenn ich mich ihnen öffnete. Ich stieß zittrig die Luft aus. Konnten meine Gefühle für Guilia nicht einfach verschwinden?

Die Quallen rückten noch ein Stück näher an mich, als versuchten sie, mich vor meinen eigenen Gedanken zu behüten. Daher hatte ich auch keine Angst vor ihnen.

Sie waren pure Magie.

Wind blies mir eine Gänsehaut auf die Arme und der Mond schien mir hell und klar ins Gesicht. Ich kehrte ihm den Rücken zu und schwamm in Richtung Ufer. Meine Beine stachen vor Kälte.

Als ich bibbernd aus dem Wasser stieg, fasste ich einen Entschluss: Ich würde meine Gefühle für mich behalten. Es war besser so. Ich wollte Guilia und Vittoria nicht verlieren, selbst wenn das bedeutete, dass ich mein Memorabilia deshalb nicht fand. Es würden sich andere Wege auftun, wie ich meiner Familie helfen konnte – irgendwas würde mir schon einfallen – aber für meine Freundschaft zu ihnen, für die gab es keinen Ersatz.

Alles, was du tun musst, um dein Memorabilia zu finden, ist offen und ehrlich mit deinen Gefühlen zu sein, hatte Omi geschrieben.

Ich hatte nicht gedacht, dass das so schwer werden würde. Gerade erschien es mir unmöglich.